Überschreitung Gotthard-Basistunnel
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Im kommenden Jahr ist es soweit: Das Jahrhundertbauwerk des Gotthard-Basistunnel wird eröffnet. Während Jahrzehnten haben tausende von Menschen an diesem längsten Eisenbahntunnel der Welt gearbeitet. Als Würdigung dieser grossartigen Leistung und auch um dieser nackten Zahl des Weltrekords (57km) eine etwas vorstellbarere Dimension zu geben, wollte ich den Verlauf des Gotthard-Basistunnels zu Fuss möglichst genau überlaufen.
Um 11:30 marschiere ich in Erstfeld (472m) los. Allerdings nicht nach Süden, sondern zunächst in entgegengesetzte Richtung nach Girenbiel. Dies gibt mir die Möglichkeit, das Nordportal des Gotthard-Basistunnels von oben zu begutachten. Auf der Fahrstrasse wandere ich zurück zum Bergweg, der übers Unters zum Obers Schwandi (1113m) führt. Auf dem Weg zur Strängmatt (1251m) stelle ich mir schon vor, wie ich bald bei Kaffee und Kuchen auf der Terrasse die Aussicht geniesse. Doch leider ist hier entgegen der Versprechung auf der Landkarte kein Restaurant mehr zu finden. Doch dies ist nicht der einzige Dämpfer. Gemäss der eigentlich eher gemütlich geplanten Marschtabelle befinde ich mich nur dank der nun entfallenen Pause noch im Zeitplan. Darüber etwas irritiert nehme ich den weiteren Weg Richtung Golzeren etwas zügiger in Angriff.
In der Plattlaui zweigt ein Pfad ab, der über Schwandi (1344m), Flüeli (1103) nach Bristen/Hälteli (812m) führt. Eine durchaus spannende Route, die aber im Gelände nicht immer einfach zu erkennen ist. Dank einem schnellen Abstieg bin ich nun wieder einigermassen im Zeitplan. Aber um in zwei Stunden rechtzeitig zum Nachtessen in der Etzlihütte (2052m) zu sein, muss ich mich ziemlich sputen…
Ich erreiche die SAC-Hütte rechtzeitig und habe vor dem Nachtessen ein halbe Stunde Zeit, um mich etwas zu entspannen. Bei der Suppe lange ich ordentlich zu, beim Salat und Hauptgang halte ich mich etwas zurück. Schliesslich will ich nicht mit vollem Magen weiterlaufen. Aber das Dessert kann ich mir natürlich nicht entgehen lassen. Eigentlich will ich keine allzu lange Pause machen, um draussen den Sonnenuntergang zu erleben. Doch ein 4-Gang Menü nimmt eben seine Zeit in Anspruch. Dafür geniesse ich aber die gesellige Runde mit einem belgischen und einem deutschen Ehepaar.
In der Dämmerung breche ich zum Chrützlipass (2346m) auf. Im Val Strem sagt ein Fuchs kurz gute Nacht, bald darauf geht der Vollmond auf. In Sedrun (1406m) haben schon alle Restaurants geschlossen. Nur im Postigliun brennt noch Licht. Doch auch hier ist die Türe verschlossen. Ich klopfe ans Fenster und werde nach anfänglichem Zögern doch hereingebeten. Bei einer Cola und Nusstorte erzähle ich der staunenden Besitzerin und Serviertochter, weshalb ich um diese Uhrzeit noch unterwegs bin. Eine gemütliche Stunde später verabschiede ich mich und erhalte sogar ein Fläschchen Bündner Röteli mit auf den Weg („Falls ich in der Nacht kalt bekommen sollte...“).
In der Zwischenzeit beträgt der Rückstand auf die Marschtabelle zwei Stunden. Doch dies ist mir egal, denn dadurch werde ich den Sonnenaufgang auf einem der folgenden Übergänge erleben, statt diesen in der Leventina zu „verpassen“. Entsprechend gemütlich schlendere ich auf der Fahrstrasse ins Val Nalps hinein. Der Vollmond leuchtet hell, die Stirnlampe bleibt aus. Es herrscht eine beruhigende Atmosphäre, fast schon meditativ. Plötzlich rennen auf der Weide neben der Strasse zwei Schafe auf mich zu. Ein komisches Verhalten für Schafe. Träume ich schon? Als die weissen Fellknäuel zu bellen anfangen, realisiere ich, dass es sich um Herdenschutzhunde handelt. Ihr Bellen hallt mächtig im Tal. Zum Glück sind sie eingezäunt und können mich nicht bedrängen…
Nach dem Tunnel und der imposanten Brücke folgt die nächste tierische Begegnung. Es kracht mächtig im Unterholz, ein grösseres Tier ergreift die Flucht. Ein Hirsch beschwert sich bald darauf röhrend wegen der Nachtruhestörung. Auf der Staumauer des Lai da Nalps (1908m) geniesse ich den sich im See spiegelnden Vollmond und die monochrome Aussicht.
Die Strasse entlang des Stausees ist am Ende gegen zehn Meter breit, was in dieser Abgelegenheit völlig surreal wirkt. Anschliessend wird der Weg teilweise zu einem Bach, bevor der rot-weiss markierte Pfad beginnt. Im spärlichen Licht des Vollmonds müssen die Markierungen aufmerksam gesucht werden. Deshalb verfolge ich meine Position auf der Karte nicht allzu genau. Als keine Markierungen mehr zu finden sind, weiss ich deshalb nicht, ob ich nun schon bei Pt 2208 bin, bei dem der Pfad den Bach überquert. So bin ich unsicher, ob ich beim Schuttkegel bin, der zur Fuorcla dil Lei Blau (2961m) hoch führt. Ich hadere zunächst, entschliesse mich aber doch aufzusteigen und nicht mehr weiter dem Bach zu folgen. Doch etliche Höhenmeter später lande ich in einem Trichter. Da bin ich wohl doch einen Schuttkegel zu früh aufgestiegen. Mühsam traversiere ich im Schutthang unter den Felsen nach Süden. Bald öffnet sich das Gelände wieder und ich steige erneut in die Höhe. Allerdings lande ich auch hier nochmals in einer Sackgasse…
Nun studiere ich die Karte genauer und merke erst dann, dass ich anfänglich den richtigen Kegel erwischt habe, aber im Aufstieg zu weit rechts kam. Der Durchschlupf zur Fuorcla dil Lai Blau wäre etwa 150m weiter nördlicher gewesen. Da ich von meiner Reko-Tour weiss, dass es südlich weitere geeignete Übergänge gibt, kehre ich nicht um, sondern quere weiter den Felsen entlang nach Süden. Nach einem weiteren Fehlversuch finde ich endlich eine vielversprechende Rinne. Zwar leuchtet die Stirnlampe nur bescheiden die nähere Umgebung aus, doch zumindest ist kein Hindernis in Sichtweite zu erkennen. Optimistisch kraxle ich hoch (T5) und werde nicht enttäuscht. In der Nähe von Pt 2737 erreiche ich den Grat.
Der weglose Abstieg führt nun zwar nicht wie geplant am Lei Blau vorbei, doch die malerischen Seelein bei Pt 2442 sind ein würdiger Ersatz. Morgenröte kündet den neuen Tag an, als ich bei Pt 2318 den markierten Bergwanderweg erreiche. Als ich am Lai da Sontga Maria (1908m) entlang wandere, spielt sich der Sonnenaufgang hinter dem Scopi ab. Bei der Zeitplanung scheine ich definitiv kein glückliches Händchen zu haben. Aber auch ohne die aufgehende Sonne zu sehen, bieten die rötlich gefärbten Berge ein imposantes Schauspiel.
Auf dem Passo dell‘ Uomo (2218m) erreichen mich die ersten Sonnenstrahlen. Es folgt der traumhafte Abschnitt durchs Val Piora zum Passo del Sole (2376m). Ebenso malerisch der weitere Weg am Lago dei Canali vorbei zum Passo Predèlp (2450m).
Auf die Marschtabelle habe ich nun bereits unerklärliche fünf Stunden Rückstand. Ich vermute, dass ich bei der Berechnung die Aufstiegs- mit der Abstiegsleistung vertauscht habe. Nun würde ich also wieder Zeit gut machen können, da es praktisch nur noch hinunter geht…
Im Abstieg begegne ich den ersten Menschen seit Sedrun. Aber auch einem Herdenschutzhund, der mit seinem Dauerbellen die bisher gewohnte Ruhe mächtig stört. Ob er die Herde Ziegen beschützen soll, die den Wanderweg belagern, erschliesst sich mir nicht. Er scheint mehr Angst vor diesen Tieren zu haben, jedenfalls kann ich ihn mit dem Durchqueren der Herde abhängen. Die nächste Herde flösst mir da mehr Respekt ein: eine Mutterkuhherde samt Stier grast auf der Alpe Sasso Iéi…
Auf der Fahrstrasse erreiche ich Prodör (1642m). Meine Vermutung bezüglich der Marschtabelle hat sich leider nicht bestätigt. Der Rückstand ist weiter gewachsen. Aus dem geplanten gemächlichen Spazieren und gemütlichen Einkehren in Grottos wird nichts. Will ich gegen Abend in Bodio sein, darf ich nicht trödeln. Also zügig hinunter nach Campello (1360m) und auf die Strada alta. Diese schlängelt sich hoch über der Leventina durch kleine, malerische Tessiner Dörfer. Ich lasse mich von der Idylle anstecken und nicht nur in mein Lauftempo kehrt etwas Ruhe ein. Auch innerlich werde ich ruhiger und so wird auch der Fotoapparat wieder häufiger gezückt. In Tengia (1099m) lasse ich von meinem ursprünglichen Plan ab, wieder über 400 Höhenmeter bis nach Monte Angone hochzusteigen, nur um näher am Linienverlauf des Basistunnels. Zu sehr hat es mir der Charme der Strada alta angetan…
Allerdings verliert diese Route schon bald wieder etwas von ihrer Schönheit. Asphaltwege werden immer häufiger. Nach Calonico (961m) gönne ich mir im Grotto Pro Bell eine kurze Pause mit Gelati. Ab Pt 925 ist der Wanderweg gesperrt, die Umleitung führt monoton der Strasse entlang nach Anzonico (984m). Erst hier gewinnt die Strada alta wieder etwas von ihrer Schönheit zurück. Ab Cavagnago (1020m) folge ich allerdings der Fahrstrasse. Die zusätzlichen Höhenmeter des Wanderwegs scheinen mir ein zu hoher Preis zu sein…
Nach Sobrio (1117m) beginnt der Abstieg, der nach Parnasco nochmals die volle Dosis von dem bietet, was ich an Tessiner Wanderwege so idyllisch finde. Steil und zugleich elegant windet sich der Pfad durch Kastanienwälder und über Steintreppen an bizarren Felsformationen vorbei in die Tiefe. Es wimmelt von Eidechsen und die Tiefblicke in die Leventina sind überwältigend. Umso überraschender dann das Ende: plötzliche stehe ich im Flachen neben einem Tennisplatz. Bodio (330m) ist erreicht. Aber nicht das Ende meiner Tour. Zum Schluss folgt beinahe der gefährlichste Teil des Unternehmens: entlang der Hauptstrasse (ohne Gehweg) zum Südportal des Gotthard-Basistunnels. Punkt 17 Uhr, also 29.5 Stunden nach dem Start, stehe ich davor.
Bemerkung zur Schwierigkeit: Einzig der Übergang vom Val Nalps zum Lai Blau ist weglos. Die aus meiner Sicht optimale Route über die Fuorcla dil Lai Blau dürfte im Bereich eines T4 sein. Mein alternativer Übergang war deutlich anspruchsvoller (T5). Der Rest der Route verläuft meist auf markierten Bergwegen (T2).
...und des Marschtabellen-Rätsels Lösung: Beim Ausfüllen meiner bewährten Excel-Tabelle ist mir tatsächlich der Fehler unterlaufen, die Distanz in Kilometern statt Metern einzugeben. Dadurch flossen praktisch nur Auf- und Abstieg in die Berechnung ein…
Fazit: Auch wenn aus dem ursprünglich geplant eher gemütlichen Tempo nichts wurde, ich am Ende von der möglichst exakten Linie abgewichen bin und weder Sonnenunter noch -aufgang direkt erleben durfte, wird mir diese Tour nur positiv in Erinnerung bleiben. Während knapp 30 Stunden durfte ich nicht nur unzählbar viele schöne Eindrücke erleben und Tiere bestaunen, sondern habe auch interessante Menschen getroffen.
Die speziell für diese Tour gekauften Trailrunning Schuhe haben sich bewährt. Weder Blasen noch andere Beschwerden. Auch der Muskelkater war minimal.
Herzlichen Dank an den Etzli-Hüttenwart und dem Team des Postigliun für die nette Bewirtung, meinem Kollegen Andreas für die initiale Idee zur Tour und allen Menschen – insbesondere meiner Frau – welche mir spontan diese zweitägige Auszeit ermöglicht haben!
Um 11:30 marschiere ich in Erstfeld (472m) los. Allerdings nicht nach Süden, sondern zunächst in entgegengesetzte Richtung nach Girenbiel. Dies gibt mir die Möglichkeit, das Nordportal des Gotthard-Basistunnels von oben zu begutachten. Auf der Fahrstrasse wandere ich zurück zum Bergweg, der übers Unters zum Obers Schwandi (1113m) führt. Auf dem Weg zur Strängmatt (1251m) stelle ich mir schon vor, wie ich bald bei Kaffee und Kuchen auf der Terrasse die Aussicht geniesse. Doch leider ist hier entgegen der Versprechung auf der Landkarte kein Restaurant mehr zu finden. Doch dies ist nicht der einzige Dämpfer. Gemäss der eigentlich eher gemütlich geplanten Marschtabelle befinde ich mich nur dank der nun entfallenen Pause noch im Zeitplan. Darüber etwas irritiert nehme ich den weiteren Weg Richtung Golzeren etwas zügiger in Angriff.
In der Plattlaui zweigt ein Pfad ab, der über Schwandi (1344m), Flüeli (1103) nach Bristen/Hälteli (812m) führt. Eine durchaus spannende Route, die aber im Gelände nicht immer einfach zu erkennen ist. Dank einem schnellen Abstieg bin ich nun wieder einigermassen im Zeitplan. Aber um in zwei Stunden rechtzeitig zum Nachtessen in der Etzlihütte (2052m) zu sein, muss ich mich ziemlich sputen…
Ich erreiche die SAC-Hütte rechtzeitig und habe vor dem Nachtessen ein halbe Stunde Zeit, um mich etwas zu entspannen. Bei der Suppe lange ich ordentlich zu, beim Salat und Hauptgang halte ich mich etwas zurück. Schliesslich will ich nicht mit vollem Magen weiterlaufen. Aber das Dessert kann ich mir natürlich nicht entgehen lassen. Eigentlich will ich keine allzu lange Pause machen, um draussen den Sonnenuntergang zu erleben. Doch ein 4-Gang Menü nimmt eben seine Zeit in Anspruch. Dafür geniesse ich aber die gesellige Runde mit einem belgischen und einem deutschen Ehepaar.
In der Dämmerung breche ich zum Chrützlipass (2346m) auf. Im Val Strem sagt ein Fuchs kurz gute Nacht, bald darauf geht der Vollmond auf. In Sedrun (1406m) haben schon alle Restaurants geschlossen. Nur im Postigliun brennt noch Licht. Doch auch hier ist die Türe verschlossen. Ich klopfe ans Fenster und werde nach anfänglichem Zögern doch hereingebeten. Bei einer Cola und Nusstorte erzähle ich der staunenden Besitzerin und Serviertochter, weshalb ich um diese Uhrzeit noch unterwegs bin. Eine gemütliche Stunde später verabschiede ich mich und erhalte sogar ein Fläschchen Bündner Röteli mit auf den Weg („Falls ich in der Nacht kalt bekommen sollte...“).
In der Zwischenzeit beträgt der Rückstand auf die Marschtabelle zwei Stunden. Doch dies ist mir egal, denn dadurch werde ich den Sonnenaufgang auf einem der folgenden Übergänge erleben, statt diesen in der Leventina zu „verpassen“. Entsprechend gemütlich schlendere ich auf der Fahrstrasse ins Val Nalps hinein. Der Vollmond leuchtet hell, die Stirnlampe bleibt aus. Es herrscht eine beruhigende Atmosphäre, fast schon meditativ. Plötzlich rennen auf der Weide neben der Strasse zwei Schafe auf mich zu. Ein komisches Verhalten für Schafe. Träume ich schon? Als die weissen Fellknäuel zu bellen anfangen, realisiere ich, dass es sich um Herdenschutzhunde handelt. Ihr Bellen hallt mächtig im Tal. Zum Glück sind sie eingezäunt und können mich nicht bedrängen…
Nach dem Tunnel und der imposanten Brücke folgt die nächste tierische Begegnung. Es kracht mächtig im Unterholz, ein grösseres Tier ergreift die Flucht. Ein Hirsch beschwert sich bald darauf röhrend wegen der Nachtruhestörung. Auf der Staumauer des Lai da Nalps (1908m) geniesse ich den sich im See spiegelnden Vollmond und die monochrome Aussicht.
Die Strasse entlang des Stausees ist am Ende gegen zehn Meter breit, was in dieser Abgelegenheit völlig surreal wirkt. Anschliessend wird der Weg teilweise zu einem Bach, bevor der rot-weiss markierte Pfad beginnt. Im spärlichen Licht des Vollmonds müssen die Markierungen aufmerksam gesucht werden. Deshalb verfolge ich meine Position auf der Karte nicht allzu genau. Als keine Markierungen mehr zu finden sind, weiss ich deshalb nicht, ob ich nun schon bei Pt 2208 bin, bei dem der Pfad den Bach überquert. So bin ich unsicher, ob ich beim Schuttkegel bin, der zur Fuorcla dil Lei Blau (2961m) hoch führt. Ich hadere zunächst, entschliesse mich aber doch aufzusteigen und nicht mehr weiter dem Bach zu folgen. Doch etliche Höhenmeter später lande ich in einem Trichter. Da bin ich wohl doch einen Schuttkegel zu früh aufgestiegen. Mühsam traversiere ich im Schutthang unter den Felsen nach Süden. Bald öffnet sich das Gelände wieder und ich steige erneut in die Höhe. Allerdings lande ich auch hier nochmals in einer Sackgasse…
Nun studiere ich die Karte genauer und merke erst dann, dass ich anfänglich den richtigen Kegel erwischt habe, aber im Aufstieg zu weit rechts kam. Der Durchschlupf zur Fuorcla dil Lai Blau wäre etwa 150m weiter nördlicher gewesen. Da ich von meiner Reko-Tour weiss, dass es südlich weitere geeignete Übergänge gibt, kehre ich nicht um, sondern quere weiter den Felsen entlang nach Süden. Nach einem weiteren Fehlversuch finde ich endlich eine vielversprechende Rinne. Zwar leuchtet die Stirnlampe nur bescheiden die nähere Umgebung aus, doch zumindest ist kein Hindernis in Sichtweite zu erkennen. Optimistisch kraxle ich hoch (T5) und werde nicht enttäuscht. In der Nähe von Pt 2737 erreiche ich den Grat.
Der weglose Abstieg führt nun zwar nicht wie geplant am Lei Blau vorbei, doch die malerischen Seelein bei Pt 2442 sind ein würdiger Ersatz. Morgenröte kündet den neuen Tag an, als ich bei Pt 2318 den markierten Bergwanderweg erreiche. Als ich am Lai da Sontga Maria (1908m) entlang wandere, spielt sich der Sonnenaufgang hinter dem Scopi ab. Bei der Zeitplanung scheine ich definitiv kein glückliches Händchen zu haben. Aber auch ohne die aufgehende Sonne zu sehen, bieten die rötlich gefärbten Berge ein imposantes Schauspiel.
Auf dem Passo dell‘ Uomo (2218m) erreichen mich die ersten Sonnenstrahlen. Es folgt der traumhafte Abschnitt durchs Val Piora zum Passo del Sole (2376m). Ebenso malerisch der weitere Weg am Lago dei Canali vorbei zum Passo Predèlp (2450m).
Auf die Marschtabelle habe ich nun bereits unerklärliche fünf Stunden Rückstand. Ich vermute, dass ich bei der Berechnung die Aufstiegs- mit der Abstiegsleistung vertauscht habe. Nun würde ich also wieder Zeit gut machen können, da es praktisch nur noch hinunter geht…
Im Abstieg begegne ich den ersten Menschen seit Sedrun. Aber auch einem Herdenschutzhund, der mit seinem Dauerbellen die bisher gewohnte Ruhe mächtig stört. Ob er die Herde Ziegen beschützen soll, die den Wanderweg belagern, erschliesst sich mir nicht. Er scheint mehr Angst vor diesen Tieren zu haben, jedenfalls kann ich ihn mit dem Durchqueren der Herde abhängen. Die nächste Herde flösst mir da mehr Respekt ein: eine Mutterkuhherde samt Stier grast auf der Alpe Sasso Iéi…
Auf der Fahrstrasse erreiche ich Prodör (1642m). Meine Vermutung bezüglich der Marschtabelle hat sich leider nicht bestätigt. Der Rückstand ist weiter gewachsen. Aus dem geplanten gemächlichen Spazieren und gemütlichen Einkehren in Grottos wird nichts. Will ich gegen Abend in Bodio sein, darf ich nicht trödeln. Also zügig hinunter nach Campello (1360m) und auf die Strada alta. Diese schlängelt sich hoch über der Leventina durch kleine, malerische Tessiner Dörfer. Ich lasse mich von der Idylle anstecken und nicht nur in mein Lauftempo kehrt etwas Ruhe ein. Auch innerlich werde ich ruhiger und so wird auch der Fotoapparat wieder häufiger gezückt. In Tengia (1099m) lasse ich von meinem ursprünglichen Plan ab, wieder über 400 Höhenmeter bis nach Monte Angone hochzusteigen, nur um näher am Linienverlauf des Basistunnels. Zu sehr hat es mir der Charme der Strada alta angetan…
Allerdings verliert diese Route schon bald wieder etwas von ihrer Schönheit. Asphaltwege werden immer häufiger. Nach Calonico (961m) gönne ich mir im Grotto Pro Bell eine kurze Pause mit Gelati. Ab Pt 925 ist der Wanderweg gesperrt, die Umleitung führt monoton der Strasse entlang nach Anzonico (984m). Erst hier gewinnt die Strada alta wieder etwas von ihrer Schönheit zurück. Ab Cavagnago (1020m) folge ich allerdings der Fahrstrasse. Die zusätzlichen Höhenmeter des Wanderwegs scheinen mir ein zu hoher Preis zu sein…
Nach Sobrio (1117m) beginnt der Abstieg, der nach Parnasco nochmals die volle Dosis von dem bietet, was ich an Tessiner Wanderwege so idyllisch finde. Steil und zugleich elegant windet sich der Pfad durch Kastanienwälder und über Steintreppen an bizarren Felsformationen vorbei in die Tiefe. Es wimmelt von Eidechsen und die Tiefblicke in die Leventina sind überwältigend. Umso überraschender dann das Ende: plötzliche stehe ich im Flachen neben einem Tennisplatz. Bodio (330m) ist erreicht. Aber nicht das Ende meiner Tour. Zum Schluss folgt beinahe der gefährlichste Teil des Unternehmens: entlang der Hauptstrasse (ohne Gehweg) zum Südportal des Gotthard-Basistunnels. Punkt 17 Uhr, also 29.5 Stunden nach dem Start, stehe ich davor.
Bemerkung zur Schwierigkeit: Einzig der Übergang vom Val Nalps zum Lai Blau ist weglos. Die aus meiner Sicht optimale Route über die Fuorcla dil Lai Blau dürfte im Bereich eines T4 sein. Mein alternativer Übergang war deutlich anspruchsvoller (T5). Der Rest der Route verläuft meist auf markierten Bergwegen (T2).
...und des Marschtabellen-Rätsels Lösung: Beim Ausfüllen meiner bewährten Excel-Tabelle ist mir tatsächlich der Fehler unterlaufen, die Distanz in Kilometern statt Metern einzugeben. Dadurch flossen praktisch nur Auf- und Abstieg in die Berechnung ein…
Fazit: Auch wenn aus dem ursprünglich geplant eher gemütlichen Tempo nichts wurde, ich am Ende von der möglichst exakten Linie abgewichen bin und weder Sonnenunter noch -aufgang direkt erleben durfte, wird mir diese Tour nur positiv in Erinnerung bleiben. Während knapp 30 Stunden durfte ich nicht nur unzählbar viele schöne Eindrücke erleben und Tiere bestaunen, sondern habe auch interessante Menschen getroffen.
Die speziell für diese Tour gekauften Trailrunning Schuhe haben sich bewährt. Weder Blasen noch andere Beschwerden. Auch der Muskelkater war minimal.
Herzlichen Dank an den Etzli-Hüttenwart und dem Team des Postigliun für die nette Bewirtung, meinem Kollegen Andreas für die initiale Idee zur Tour und allen Menschen – insbesondere meiner Frau – welche mir spontan diese zweitägige Auszeit ermöglicht haben!
Tourengänger:
Tobi
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