Träume und Grenzen im Chalttäli – Eine neue Route durch die Nordwand am Vrenelisgärtli
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Träume und Grenzen im Chalttäli – Eine neue Route durch die Nordwand am Vrenelisgärtli
Wieso gehe ich in die Berge? Klar, wegen der Natur, der Urtümlichkeit, der Ruhe. Aber Berge sind immer auch Träume – Ideen, die zuerst lange im Hinterkopf reifen, bis man sich wagt, ein Projekt in Angriff zu nehmen und schliesslich in eine Route einzusteigen. Und nicht zuletzt bietet einem der Berg auch echte Grenzen – innen wie aussen, konditionell, technisch, mental – Grenzen, die man erfahren darf und verschieben kann.
Ein Traum
Seit ich das erste Mal am Glärnisch unterwegs war und auf dem Rückweg vom Klöntal in diese wilde, abweisende Wand des Vrenelisgärtli gestarrt habe, seither träumte ich davon, einmal dort raufzusteigen. Eine erste Recherche ergab, dass da tatsächlich eine Route hochführt: Genannt “Chalttäli”, Schwierigkeitsgrad S... jenseits von meinen Fähigkeiten! Hier kommen also die Grenzen in's Spiel – Grenzen, die man sich selbst setzt, und Grenzen, die einem der Berg vorgibt. Und vielleicht ist es gerade die Faszination dieser Grenzen, die dazu führt, dass Träume zu ernsthaften Projekten werden.
Nachdem ich diesen Winter meine Eiskletter-Technik gefestigt hatte, meldete sich im Frühjahr der Chalttäli-Traum aus meinem Hinterkopf zurück. Das Projekt begann Form anzunehmen und ich war mehrmals mit Feldstecher und Fotokamera im Klöntal, studierte mögliche Routen und erkundete den Zustieg oben auf dem Chalttälifirn. Mitte April schienen die Verhältnisse dann perfekt zu sein – aber niemand konnte/wollte mit mir in die Route einsteigen. Nach dem Neuschnee Anfang Mai bot sich diese Woche nun erneut ein Zeitfenster und mit DarioM ein Tourenpartner, den ich ebenfalls für die Nordwand am Vreneli begeistern konnte.
Eine neue Route
Die Normalroute durch's Chalttäli wurde auf Hikr bereits beschrieben. Alpinist's und 3614Adrian's sehr detaillierte Beiträge, dienten mir als Planungs-Grundlage. Nach ausgiebigem Geländestudium stand aber fest, dass ich eine neue Route probieren wollte. Eine Rinne, die sich östlich des Chorren vorbei an den "Chrummen Würmern" durch die ganze Wand des Vreneli hochzieht, reizt mit steilem Firn und vereisten Felsstufen. Bei guten Verhältnissen sollte man durch diese Mixed-Route direkt auf das berühmte obere Schneeband gelangen, welches in einer 800m-langen Ost-West-Traverse in den grossen Kessel zwischen Ruchen und Vreneli leitet und den Ausstieg über ein 450Hm-Couloir auf den Schwandergrat freigibt.
Der Aufstieg
Start also um 0500 in Hinter Saggberg, wo wir das Auto abstellen – was sich am Abend noch als Herausforderung zeigen sollte. In der Dämmerung zügig auf dem Wanderweg hoch über Tschingel nach Mittelstaffel.
Ab hier weglos auf der östlichen Seite des Bachs hoch Richtung Munggenplanggen. Es liegt noch etwas Schnee und das apere Gelände ist stark durchnässt und rutschig, wir montieren die Steigeisen also bereits hier. Über einen grossen Schneekegel östlich des Chorren-Rückens gelangt man linkshaltend über Schrofen und steiles Gras zu einer ersten Felsstufe auf ca. 1760müM. Der Fels ist hier plattig und nass, was nicht bedeutet, dass man sich daran nicht doch die Hose aufreissen kann! Ich versuche es also am rechten Rand über eine ausgesetzte Schrofen-Passage. Oben drückt jedoch bald ein Überhang, unter den Sohlen schon gehörig Luft, der Fels ist brüchig und im losen Moos finden die Eisgeräte auch keinen Halt! Das Adrenalin fliesst reichlich, ich klettere zurück und hoffe, dass dies der einzige Verhauer des Tages bleibt. DarioM macht's unterdessen besser und findet weiter links gute Griffe. Seine Linie soll mir auch recht sein – Balsam für die schlottrigen Knie.
Ab hier liegt nun Schnee, sogar guter Trittschnee, was moosigen Botanik-Kontakt vermeidet und zudem die Hosen schont. Leicht rechtshaltend geht’s hoch zum Einstieg der langen Rinne auf ca. 1920müM. Eine plattige Felsstufe mit rutschig dünner Schneeauflage umgehen wir linkerhand über eine apere Stelle im steilen Gras. Danach weiterhin gäääch aufwärts (die Rinne hat hier bereits ca. 40°) bis sich uns auf ca. 2000müM ein senkrechter Felsriegel in den Weg stellt. An seiner schwächsten Stelle scheint etwas Schnee die Überwindung möglich zu machen. Im unteren Teil der Stufe ist der Schnee noch kompakt und die Steileispickel greifen sauber im darunterliegenden Eis. Im oberen Teil präsentiert sich diese Schneeauflage dann unglücklicherweise als nass und völlig lose, die Eisgeräte finden darin einfach keinen Halt! Etwas energischeres Platzieren der Nomics, in der Hoffnung unter der dicken Schneeschicht befände sich Eis, resultiert im Geräusch und Geruch, der entsteht, wenn man Metall gegen Fels schlägt. Ja, so einfach macht man aus einer scharfen “Ice”- eine stumpfe “Dry”-Haue! Aber war's das jetzt schon mit der neuen Route im Chalttäli? Gescheitert an einer spärlichen Steilstufe?! In einem letzten Versuch räume ich den Schnee soweit möglich ab und suche im Fels nach zuverlässigen Hooks: Rechts steckt die Haue (softimpact ;-) in einer dünnen Eisglasur... links scheint ein Dry-Hook zu halten... ein vorsichtiger Zug... Füsse nachziehen... dann die Erleichterung, als der nächste Pickel in der kompakten Eisscholle oberhalb der Stufe beisst. Eisklettern mal ohne Schrauben und Bohrhaken – und doch recht entspannt, den Tagen im Sertig und Avers sei Dank. Diese Schlüsselstelle wäre also überwunden. Eine weitere Stufe mit hübschem Wasserfall umklettern wir im Fels. Die Rinne hat inzwischen ca. 45° Steigung und im etwas weichen Schnee geht's anstrengend aber zügig bergauf.
Auf ca. 2200müM wird die Rinne durch ein ca. 60m hohes, senkrechtes Felsband unterbrochen. Den Eisfall, der vom oberen Teil der Rinne über dieses Felsband fällt, habe ich bereits auf den Erkundungstouren betrachtet. Während der Fall im Winter sicherlich ein spannende Option wäre (ca. Wi4), lassen wir's in Anbetracht der sehr zweifelhaften Eisqualität und fortgeschrittenen Zeit bleiben. Das Felsband wollen wir stattdessen westlich über den Rücken des Chnorren (und die Normalroute) umgehen. Etwas östlich des Chnorren fällt uns dabei ein gut vereistes Gouly auf. Es führt durch das an dieser Stelle viel schmalere Felsband hoch. Die Eisgeräte beissen herrlich im kompakten Eis und machen diese Passage zum puren Genuss.
Man könnte nun auf einem Band (der Normalroute folgend) wieder nach Osten zum "Würmer-Couloir" queren und in diesem zum grossen Schneeband aufsteigen. Queren ist bei einer Steilheit von 45° aber mühsamer als aufsteigen, und so "zieht" es uns instinktiv über eine weitere Steilstufe auf das nächste Band. Trotz der allgemeinen Steilheit des Geländes hat sich die Ausgesetztheit (für mein Empfinden) bisher in Grenzen gehalten. Dieses Band hat nun aber über 55° Gefälle und der Tiefblick über die darunterliegende Felswand lässt eine anständige Sogwirkung aufkommen. Glücklicherweise ist die Schnee hier gut verfirnt und mit bedachtem Setzen der Steigeisen und Pickel geht's weiter aufwärts.
Jetzt trennt uns nur noch eine letzte Felsstufe vom grossen (erlösenden) Schneeband. Aber diese Felsstufe hat es in sich – sie ist nahezu senkrecht, unglaublich brüchig und das Gestein gleicht einem vage zusammengefügten Mosaik aus faustgrossen Blöcken. Mein Tourenpartner vertraut auf seine Kletter-Skills und will dennoch einen Versuch im Fels wagen. Die Passage, eine ca. 10m hohe Verschneidung, scheint machbar. Jeden Griff und Tritt mehrfach auf Festigkeit prüfend steigt er hoch. Oben wird’s jedoch immer steiler und abdrängender... seilfrei, keine Sicherungsmöglichkeiten, unter uns ein 60° steiles Firnband und die gähnende Leere... die Nerven liegen blank. Das Felsband will uns einfach nicht durchlassen! Schritt für Schritt steigt er vorsichtig wieder ab – an die Grenzen gehen können, aber auch spüren, wann sie zu respektieren sind. Zwischenzeitlich habe ich weiter westlich zwei Eisstufen ausgemacht. Zwar nicht minder exponiert, doch erscheint ein Hochklettern hier möglich. Das Eis ist dann auch recht kompakt. Neuen Mut gefasst, die Ausgesetztheit und alle "Was wenn…?"-Gedanken ausgeblendet, wird das Klettern dieser Schlüsselstelle fast schon wieder zum Genuss.
Trotzdem sind wir froh, das grosse Schneeband auf 2400müM endlich erreicht zu haben. Hier beginnt die lange Traverse. Durch unsere Direktlinie verkürzt sich diese im Vergleich zur Normalroute um ca. 200m, es gilt aber immer noch 600m auf dem abschüssigen Band zu queren. Anfänglich ist der Schnee noch recht kompakt und vermittelt ein sicheres Gefühl; ausgerechnet im gut 55° steilen Mittelteil ist der Schnee aber nass und weich, die Füsse wollen hier sorgfältig belastet werden. Wir haben dann auch nichts dagegen, dass das Band gegen Ende wieder flacher, breiter und der Schnee fester wird.
Mit einer gewissen Erleichterung erreichen wir den Kessel zwischen Vreneli und Ruchen und mit ihm das Ausstiegscouloir. Nur noch 400Hm trennen uns vom Schwandergrat. Schritt für Schritt geht's aufwärts, mal im festen, mal im weicheren Schnee. Obwohl stellenweise sicher auch gegen 60° steil, hält sich für mich die gefühlte Ausgesetztheit in Grenzen und lässt kaum mehr Adrenalin aufkommen. Der bisherige Aufstieg hat allerdings ganz schön an den Kräften gezehrt. Der Höhenmesser scheint mich zu verarschen – das verdammte Couloir will einfach kein Ende nehmen! Ausstiegs-Couloirs werden im Bergsteiger-Jargon gerne als "Stairway to Heaven" verniedlicht. Wenn man hingegen bereits 1500Hm in den Beinen und etliche Adrenalinschübe in den Venen hat, so verdient eine derart endlose Treppe eher das Prädikat "Hell". Aber fluchen bringt nichts und der einzige Weg führt nach oben. So geht's halt Schritt für Schritt weiter... links, Pickel, rechts, Pickel, links... DarioM mobilisiert nochmal Reserven und ich habe nichts dagegen, dass er vorspurt.
Und dann legt sich das Weiss vor den Augen allmählich zurück, bekommt einen bläulichen Ton und weicht schliesslich dem tiefen Blau des Himmels. Wir haben's geschafft, das Chalttäli durchstiegen! Und erst noch auf einer neuen Route. Die Anspannung weicht aus den Gliedern – Erleichterung, Dankbarkeit, Zufriedenheit breitet sich aus. Gefühle, wie man sie nur nach solchen Grenzerfahrungen in den Bergen erlebt.
Der Abstieg
Auf die Ruhe folgt wieder etwas Anspannung, denn auf jeden Aufstieg folgt bekanntlich der Abstieg… und dieser zieht sich nochmal ganz schön in die Länge. Der Schnee auf dem Schwandergrat ist eine reine Pampe und nicht gerade vertrauenerweckend... drüben am Ruchen donnern im Halbstunden-Takt Lawinen vom Grat in's Tal. Sinnlose “Was wenn...?”-Szenarien verdrängt, angeseilt und möglichst oben auf der Schneide über den Grat – aber nicht zu weit links, die Wächten sind trügerisch. Am bekannten Kettenturm zur Sicherheit ein paar Expressen eingehängt und zügig rauf. Im Sommer stauen sich hier die Vreneli-Aspiranten – wir haben auf der ganzen Tour keine Menschenseele angetroffen. Weiter absteigend über den Glärnischfirn, der immer noch gut eingeschneit ist und keine Spalten zeigt. Der Schnee ist allerdings auch hier derart pampig, dass wir stellenweise bis zu den Hüften einsinken. Und das Wegstück bis zur Glärnischhütte zieht sich nochmal verdammt lang hin. Ich komme echt an meine Grenzen. In der Hütte die Flüssigkeits- und Kohlenhydrat-Speicher wieder etwas aufgefüllt, geht’s mit neuer Energie auf dem Wanderweg runter nach Wärben. Der Weg ist oben noch von einer seichten Schneeschicht bedeckt und die darunterliegenden Steine und Löcher erfordern konzentriertes absteigen. Als wir Chäseren passieren ist es bereits dunkel – natürlich auch hier keine Menschenseele, geschweige denn ein Alpentaxi. Die Stirnlampen nochmal an, spulen wir die verbleibenden 6km runter zum Klöntalsee zügig und gut gelaunt ab.
Unten im Klöntal dann: Alles dunkel und wie ausgestorben, nur der Sternenhimmel und das Quaken der Frösche. Restaurant Plätz: Dunkel. Restaurant Vorauen: Dunkel. Mein Auto: Immer noch auf Hinter Saggberg! Distanz dorthin: Weitere 10km. Per Autostop irgendwie da hoch zu kommen: Eine Illusion. Also ein Taxi bestellen! Gar nicht so einfach, denn die Fahrt ist wohl zu wenig lukrativ. Der dritte Anbieter erklärt sich schliesslich bereit, in’s Klöntal hochzukommen und uns zu erlösen.
Nach fast 18h und einer kompletten Durchquerung des Glärnisch-Massivs sind wir wieder zurück am Ausgangspunkt – arm an Energie, reich an Erlebnissen. Die Nordwand am Vreneli selbständig zu begehen, lässt für mich einen Traum in Erfüllung gehen. Wir durften die Grenzen dieses Berges erfahren und bekamen die Chance, unsere eigenen zu verschieben. Und das ist’s doch, was Bergsteigen ausmacht.
Route / Zeiten
Statt der für den Normalweg im Aufstieg veranschlagten 6h, haben wir incl. Pausen, Verhauer und Routensuche gut 9h gebraucht. Bei optimalen Bedingungen wäre unsere Route wohl auch in 6-7h machbar.
Sie mag unkonventionell sein, bietet aber meines Erachtens sehr viel Abwechslung und ein breites Spektrum an Herausforderungen: Alpinwandern, Klettern in brüchigem Gelände, Eis- & Mixed-Klettern, abschüssige Schneeband-Traversen, steile Couloirs und einen endlosen Abstieg.
Optimaler Begehungs-Zeitraum ist im Frühjahr, wenn sich nach einer wärmeren Periode der Schnee gut verfestigt hat und die Eisfälle trotzdem noch genügend Substanz haben. Kalte, klare Nächte und ein früher Start sind Pflicht.
In Anbetracht der Länge, (eis-)klettertechnischen Schwierigkeiten, Exponiertheit, Ernsthaftigkeit und nicht-existenten Sicherungsmöglichkeiten bewerte ich die Route mit S+/III/T6 bzw. Wi3/M4.
Verhältnisse am 20.05.14
Die Verhältnisse in der Chalttäli-Route sind aktuell ok, aber sicher nicht mehr optimal. Unterhalb des Chnorren liegt stellenweise nur noch eine dünne Schneeschicht auf dem Fels und die Graspassagen sind stark durchnässt und entsprechend rutschig. In den schattigen Bändern war der Schnee kompakt, teils sogar gut verfirnt. Das grosse Schneeband hat noch viel Schnee, allerdings ist dieser an den sonnenexponierten Stellen von schlechter Qualität; anhaltend warme Tagestemperaturen könnten hier zu Nassschneerutschen führen. In den Couloirs liegt weitgehend guter Trittschnee. Die Routen am Vreneli sind gesteins-gedingt wohl per se steinschlägig, das Tauwetter leistet ebenfalls seinen Beitrag. Die Verhältnisse auf dem Schwandergrat empfand ich – aufgrund unseres späten Passierens – am prekärsten. Man tut sicher gut daran, den Grat hinter sich zu lassen, bevor die Sonne draufbrennt. Der Glärnischfirn ist aktuell noch gut eingeschneit, Spalten sind keine sichtbar. Die Felsstufen südöstlich der Glärnischhütte treten bereits hervor. Im Hüttenzustieg liegt oben noch wenig, sehr weicher und trügerischer Schnee auf dem steinigen Untergrund. Die Lawinenkegel und Bäche auf dem Hüttenweg sind gut passierbar.
Material
Wieso gehe ich in die Berge? Klar, wegen der Natur, der Urtümlichkeit, der Ruhe. Aber Berge sind immer auch Träume – Ideen, die zuerst lange im Hinterkopf reifen, bis man sich wagt, ein Projekt in Angriff zu nehmen und schliesslich in eine Route einzusteigen. Und nicht zuletzt bietet einem der Berg auch echte Grenzen – innen wie aussen, konditionell, technisch, mental – Grenzen, die man erfahren darf und verschieben kann.
Ein Traum
Seit ich das erste Mal am Glärnisch unterwegs war und auf dem Rückweg vom Klöntal in diese wilde, abweisende Wand des Vrenelisgärtli gestarrt habe, seither träumte ich davon, einmal dort raufzusteigen. Eine erste Recherche ergab, dass da tatsächlich eine Route hochführt: Genannt “Chalttäli”, Schwierigkeitsgrad S... jenseits von meinen Fähigkeiten! Hier kommen also die Grenzen in's Spiel – Grenzen, die man sich selbst setzt, und Grenzen, die einem der Berg vorgibt. Und vielleicht ist es gerade die Faszination dieser Grenzen, die dazu führt, dass Träume zu ernsthaften Projekten werden.
Nachdem ich diesen Winter meine Eiskletter-Technik gefestigt hatte, meldete sich im Frühjahr der Chalttäli-Traum aus meinem Hinterkopf zurück. Das Projekt begann Form anzunehmen und ich war mehrmals mit Feldstecher und Fotokamera im Klöntal, studierte mögliche Routen und erkundete den Zustieg oben auf dem Chalttälifirn. Mitte April schienen die Verhältnisse dann perfekt zu sein – aber niemand konnte/wollte mit mir in die Route einsteigen. Nach dem Neuschnee Anfang Mai bot sich diese Woche nun erneut ein Zeitfenster und mit DarioM ein Tourenpartner, den ich ebenfalls für die Nordwand am Vreneli begeistern konnte.
Eine neue Route
Die Normalroute durch's Chalttäli wurde auf Hikr bereits beschrieben. Alpinist's und 3614Adrian's sehr detaillierte Beiträge, dienten mir als Planungs-Grundlage. Nach ausgiebigem Geländestudium stand aber fest, dass ich eine neue Route probieren wollte. Eine Rinne, die sich östlich des Chorren vorbei an den "Chrummen Würmern" durch die ganze Wand des Vreneli hochzieht, reizt mit steilem Firn und vereisten Felsstufen. Bei guten Verhältnissen sollte man durch diese Mixed-Route direkt auf das berühmte obere Schneeband gelangen, welches in einer 800m-langen Ost-West-Traverse in den grossen Kessel zwischen Ruchen und Vreneli leitet und den Ausstieg über ein 450Hm-Couloir auf den Schwandergrat freigibt.
Der Aufstieg
Start also um 0500 in Hinter Saggberg, wo wir das Auto abstellen – was sich am Abend noch als Herausforderung zeigen sollte. In der Dämmerung zügig auf dem Wanderweg hoch über Tschingel nach Mittelstaffel.
Ab hier weglos auf der östlichen Seite des Bachs hoch Richtung Munggenplanggen. Es liegt noch etwas Schnee und das apere Gelände ist stark durchnässt und rutschig, wir montieren die Steigeisen also bereits hier. Über einen grossen Schneekegel östlich des Chorren-Rückens gelangt man linkshaltend über Schrofen und steiles Gras zu einer ersten Felsstufe auf ca. 1760müM. Der Fels ist hier plattig und nass, was nicht bedeutet, dass man sich daran nicht doch die Hose aufreissen kann! Ich versuche es also am rechten Rand über eine ausgesetzte Schrofen-Passage. Oben drückt jedoch bald ein Überhang, unter den Sohlen schon gehörig Luft, der Fels ist brüchig und im losen Moos finden die Eisgeräte auch keinen Halt! Das Adrenalin fliesst reichlich, ich klettere zurück und hoffe, dass dies der einzige Verhauer des Tages bleibt. DarioM macht's unterdessen besser und findet weiter links gute Griffe. Seine Linie soll mir auch recht sein – Balsam für die schlottrigen Knie.
Ab hier liegt nun Schnee, sogar guter Trittschnee, was moosigen Botanik-Kontakt vermeidet und zudem die Hosen schont. Leicht rechtshaltend geht’s hoch zum Einstieg der langen Rinne auf ca. 1920müM. Eine plattige Felsstufe mit rutschig dünner Schneeauflage umgehen wir linkerhand über eine apere Stelle im steilen Gras. Danach weiterhin gäääch aufwärts (die Rinne hat hier bereits ca. 40°) bis sich uns auf ca. 2000müM ein senkrechter Felsriegel in den Weg stellt. An seiner schwächsten Stelle scheint etwas Schnee die Überwindung möglich zu machen. Im unteren Teil der Stufe ist der Schnee noch kompakt und die Steileispickel greifen sauber im darunterliegenden Eis. Im oberen Teil präsentiert sich diese Schneeauflage dann unglücklicherweise als nass und völlig lose, die Eisgeräte finden darin einfach keinen Halt! Etwas energischeres Platzieren der Nomics, in der Hoffnung unter der dicken Schneeschicht befände sich Eis, resultiert im Geräusch und Geruch, der entsteht, wenn man Metall gegen Fels schlägt. Ja, so einfach macht man aus einer scharfen “Ice”- eine stumpfe “Dry”-Haue! Aber war's das jetzt schon mit der neuen Route im Chalttäli? Gescheitert an einer spärlichen Steilstufe?! In einem letzten Versuch räume ich den Schnee soweit möglich ab und suche im Fels nach zuverlässigen Hooks: Rechts steckt die Haue (softimpact ;-) in einer dünnen Eisglasur... links scheint ein Dry-Hook zu halten... ein vorsichtiger Zug... Füsse nachziehen... dann die Erleichterung, als der nächste Pickel in der kompakten Eisscholle oberhalb der Stufe beisst. Eisklettern mal ohne Schrauben und Bohrhaken – und doch recht entspannt, den Tagen im Sertig und Avers sei Dank. Diese Schlüsselstelle wäre also überwunden. Eine weitere Stufe mit hübschem Wasserfall umklettern wir im Fels. Die Rinne hat inzwischen ca. 45° Steigung und im etwas weichen Schnee geht's anstrengend aber zügig bergauf.
Auf ca. 2200müM wird die Rinne durch ein ca. 60m hohes, senkrechtes Felsband unterbrochen. Den Eisfall, der vom oberen Teil der Rinne über dieses Felsband fällt, habe ich bereits auf den Erkundungstouren betrachtet. Während der Fall im Winter sicherlich ein spannende Option wäre (ca. Wi4), lassen wir's in Anbetracht der sehr zweifelhaften Eisqualität und fortgeschrittenen Zeit bleiben. Das Felsband wollen wir stattdessen westlich über den Rücken des Chnorren (und die Normalroute) umgehen. Etwas östlich des Chnorren fällt uns dabei ein gut vereistes Gouly auf. Es führt durch das an dieser Stelle viel schmalere Felsband hoch. Die Eisgeräte beissen herrlich im kompakten Eis und machen diese Passage zum puren Genuss.
Man könnte nun auf einem Band (der Normalroute folgend) wieder nach Osten zum "Würmer-Couloir" queren und in diesem zum grossen Schneeband aufsteigen. Queren ist bei einer Steilheit von 45° aber mühsamer als aufsteigen, und so "zieht" es uns instinktiv über eine weitere Steilstufe auf das nächste Band. Trotz der allgemeinen Steilheit des Geländes hat sich die Ausgesetztheit (für mein Empfinden) bisher in Grenzen gehalten. Dieses Band hat nun aber über 55° Gefälle und der Tiefblick über die darunterliegende Felswand lässt eine anständige Sogwirkung aufkommen. Glücklicherweise ist die Schnee hier gut verfirnt und mit bedachtem Setzen der Steigeisen und Pickel geht's weiter aufwärts.
Jetzt trennt uns nur noch eine letzte Felsstufe vom grossen (erlösenden) Schneeband. Aber diese Felsstufe hat es in sich – sie ist nahezu senkrecht, unglaublich brüchig und das Gestein gleicht einem vage zusammengefügten Mosaik aus faustgrossen Blöcken. Mein Tourenpartner vertraut auf seine Kletter-Skills und will dennoch einen Versuch im Fels wagen. Die Passage, eine ca. 10m hohe Verschneidung, scheint machbar. Jeden Griff und Tritt mehrfach auf Festigkeit prüfend steigt er hoch. Oben wird’s jedoch immer steiler und abdrängender... seilfrei, keine Sicherungsmöglichkeiten, unter uns ein 60° steiles Firnband und die gähnende Leere... die Nerven liegen blank. Das Felsband will uns einfach nicht durchlassen! Schritt für Schritt steigt er vorsichtig wieder ab – an die Grenzen gehen können, aber auch spüren, wann sie zu respektieren sind. Zwischenzeitlich habe ich weiter westlich zwei Eisstufen ausgemacht. Zwar nicht minder exponiert, doch erscheint ein Hochklettern hier möglich. Das Eis ist dann auch recht kompakt. Neuen Mut gefasst, die Ausgesetztheit und alle "Was wenn…?"-Gedanken ausgeblendet, wird das Klettern dieser Schlüsselstelle fast schon wieder zum Genuss.
Trotzdem sind wir froh, das grosse Schneeband auf 2400müM endlich erreicht zu haben. Hier beginnt die lange Traverse. Durch unsere Direktlinie verkürzt sich diese im Vergleich zur Normalroute um ca. 200m, es gilt aber immer noch 600m auf dem abschüssigen Band zu queren. Anfänglich ist der Schnee noch recht kompakt und vermittelt ein sicheres Gefühl; ausgerechnet im gut 55° steilen Mittelteil ist der Schnee aber nass und weich, die Füsse wollen hier sorgfältig belastet werden. Wir haben dann auch nichts dagegen, dass das Band gegen Ende wieder flacher, breiter und der Schnee fester wird.
Mit einer gewissen Erleichterung erreichen wir den Kessel zwischen Vreneli und Ruchen und mit ihm das Ausstiegscouloir. Nur noch 400Hm trennen uns vom Schwandergrat. Schritt für Schritt geht's aufwärts, mal im festen, mal im weicheren Schnee. Obwohl stellenweise sicher auch gegen 60° steil, hält sich für mich die gefühlte Ausgesetztheit in Grenzen und lässt kaum mehr Adrenalin aufkommen. Der bisherige Aufstieg hat allerdings ganz schön an den Kräften gezehrt. Der Höhenmesser scheint mich zu verarschen – das verdammte Couloir will einfach kein Ende nehmen! Ausstiegs-Couloirs werden im Bergsteiger-Jargon gerne als "Stairway to Heaven" verniedlicht. Wenn man hingegen bereits 1500Hm in den Beinen und etliche Adrenalinschübe in den Venen hat, so verdient eine derart endlose Treppe eher das Prädikat "Hell". Aber fluchen bringt nichts und der einzige Weg führt nach oben. So geht's halt Schritt für Schritt weiter... links, Pickel, rechts, Pickel, links... DarioM mobilisiert nochmal Reserven und ich habe nichts dagegen, dass er vorspurt.
Und dann legt sich das Weiss vor den Augen allmählich zurück, bekommt einen bläulichen Ton und weicht schliesslich dem tiefen Blau des Himmels. Wir haben's geschafft, das Chalttäli durchstiegen! Und erst noch auf einer neuen Route. Die Anspannung weicht aus den Gliedern – Erleichterung, Dankbarkeit, Zufriedenheit breitet sich aus. Gefühle, wie man sie nur nach solchen Grenzerfahrungen in den Bergen erlebt.
Der Abstieg
Auf die Ruhe folgt wieder etwas Anspannung, denn auf jeden Aufstieg folgt bekanntlich der Abstieg… und dieser zieht sich nochmal ganz schön in die Länge. Der Schnee auf dem Schwandergrat ist eine reine Pampe und nicht gerade vertrauenerweckend... drüben am Ruchen donnern im Halbstunden-Takt Lawinen vom Grat in's Tal. Sinnlose “Was wenn...?”-Szenarien verdrängt, angeseilt und möglichst oben auf der Schneide über den Grat – aber nicht zu weit links, die Wächten sind trügerisch. Am bekannten Kettenturm zur Sicherheit ein paar Expressen eingehängt und zügig rauf. Im Sommer stauen sich hier die Vreneli-Aspiranten – wir haben auf der ganzen Tour keine Menschenseele angetroffen. Weiter absteigend über den Glärnischfirn, der immer noch gut eingeschneit ist und keine Spalten zeigt. Der Schnee ist allerdings auch hier derart pampig, dass wir stellenweise bis zu den Hüften einsinken. Und das Wegstück bis zur Glärnischhütte zieht sich nochmal verdammt lang hin. Ich komme echt an meine Grenzen. In der Hütte die Flüssigkeits- und Kohlenhydrat-Speicher wieder etwas aufgefüllt, geht’s mit neuer Energie auf dem Wanderweg runter nach Wärben. Der Weg ist oben noch von einer seichten Schneeschicht bedeckt und die darunterliegenden Steine und Löcher erfordern konzentriertes absteigen. Als wir Chäseren passieren ist es bereits dunkel – natürlich auch hier keine Menschenseele, geschweige denn ein Alpentaxi. Die Stirnlampen nochmal an, spulen wir die verbleibenden 6km runter zum Klöntalsee zügig und gut gelaunt ab.
Unten im Klöntal dann: Alles dunkel und wie ausgestorben, nur der Sternenhimmel und das Quaken der Frösche. Restaurant Plätz: Dunkel. Restaurant Vorauen: Dunkel. Mein Auto: Immer noch auf Hinter Saggberg! Distanz dorthin: Weitere 10km. Per Autostop irgendwie da hoch zu kommen: Eine Illusion. Also ein Taxi bestellen! Gar nicht so einfach, denn die Fahrt ist wohl zu wenig lukrativ. Der dritte Anbieter erklärt sich schliesslich bereit, in’s Klöntal hochzukommen und uns zu erlösen.
Nach fast 18h und einer kompletten Durchquerung des Glärnisch-Massivs sind wir wieder zurück am Ausgangspunkt – arm an Energie, reich an Erlebnissen. Die Nordwand am Vreneli selbständig zu begehen, lässt für mich einen Traum in Erfüllung gehen. Wir durften die Grenzen dieses Berges erfahren und bekamen die Chance, unsere eigenen zu verschieben. Und das ist’s doch, was Bergsteigen ausmacht.
Route / Zeiten
Statt der für den Normalweg im Aufstieg veranschlagten 6h, haben wir incl. Pausen, Verhauer und Routensuche gut 9h gebraucht. Bei optimalen Bedingungen wäre unsere Route wohl auch in 6-7h machbar.
Sie mag unkonventionell sein, bietet aber meines Erachtens sehr viel Abwechslung und ein breites Spektrum an Herausforderungen: Alpinwandern, Klettern in brüchigem Gelände, Eis- & Mixed-Klettern, abschüssige Schneeband-Traversen, steile Couloirs und einen endlosen Abstieg.
Optimaler Begehungs-Zeitraum ist im Frühjahr, wenn sich nach einer wärmeren Periode der Schnee gut verfestigt hat und die Eisfälle trotzdem noch genügend Substanz haben. Kalte, klare Nächte und ein früher Start sind Pflicht.
In Anbetracht der Länge, (eis-)klettertechnischen Schwierigkeiten, Exponiertheit, Ernsthaftigkeit und nicht-existenten Sicherungsmöglichkeiten bewerte ich die Route mit S+/III/T6 bzw. Wi3/M4.
Verhältnisse am 20.05.14
Die Verhältnisse in der Chalttäli-Route sind aktuell ok, aber sicher nicht mehr optimal. Unterhalb des Chnorren liegt stellenweise nur noch eine dünne Schneeschicht auf dem Fels und die Graspassagen sind stark durchnässt und entsprechend rutschig. In den schattigen Bändern war der Schnee kompakt, teils sogar gut verfirnt. Das grosse Schneeband hat noch viel Schnee, allerdings ist dieser an den sonnenexponierten Stellen von schlechter Qualität; anhaltend warme Tagestemperaturen könnten hier zu Nassschneerutschen führen. In den Couloirs liegt weitgehend guter Trittschnee. Die Routen am Vreneli sind gesteins-gedingt wohl per se steinschlägig, das Tauwetter leistet ebenfalls seinen Beitrag. Die Verhältnisse auf dem Schwandergrat empfand ich – aufgrund unseres späten Passierens – am prekärsten. Man tut sicher gut daran, den Grat hinter sich zu lassen, bevor die Sonne draufbrennt. Der Glärnischfirn ist aktuell noch gut eingeschneit, Spalten sind keine sichtbar. Die Felsstufen südöstlich der Glärnischhütte treten bereits hervor. Im Hüttenzustieg liegt oben noch wenig, sehr weicher und trügerischer Schnee auf dem steinigen Untergrund. Die Lawinenkegel und Bäche auf dem Hüttenweg sind gut passierbar.
Material
-
Pflicht
- Steigeisen
- 2 Steileispickel
- Helm
- Anseilgurt
- Seil (nur auf Gletscher)
- Goretex-Hose, Gamaschen, wasserdichte Handschuhe
-
Nice to have
- Rega-Funk (der obere Teil der Wand hat keinen Natelempfang)
- Schneeschuhe/Ski für Abstieg über Glärnischfirn
-
Mitgeschleppt, aber nicht benötigt
- Eisschrauben
- Friends, Keile
- Firnanker
Minimap
0Km
Klicke um zu zeichnen. Klicke auf den letzten Punkt um das Zeichnen zu beenden
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