3x1 am Kingspitz
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Sommerferien 1978, das Telefon klingelte: ob wir Lust auf eine Gletscherwanderung zur Trifthütte und über die Diechterlimmi zur Grimsel hätten? Mein Onkel hatte sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, alle SAC-Hütten zu besuchen: bis auf das Schalijochbiwak sollte er sein Ziel zusammen mit seiner Frau, meiner Tante, später einmal erreichen – wohl mit dem Mischabeljochbiwak als Höhepunkt. Weil er in seinem Alter auf Nummer sicher gehen wollte, engagierte er für unsere Tour seinen altbekannten Führer Hermann Steuri, genannt „Mändl“, aus Grindelwald. Respektvoll folgten wir Buben dann dem ehrwürdigen Führer über den Triftgletscher – dort, wo sich heute das Gletscherwasser zum Triftsee gesammelt hat – und lauschten aufmerksam seinen Geschichten. In der Hütte kochte er uns ein feines Nachtessen, anschliessend wiegte uns das Rauschen des Triftwassers sanft in den Schlaf. Am nächsten Tag ging es über die Diechterlimmi zur Gelmerhütte und hinunter nach Chüenzentennlen.
„Mändl“ hatte in den 30er Jahren aufsehenerregende Erstbegehungen wie 1935 jene der Ochs-NW-Wand oder 1938 jene der Kingspitz-NE-Wand gemacht, wobei Erstere bis heute nur wenige Wiederholungen aufweist (mehr zu Hermann Steuri hier). Meine Tante, die in jungen Jahren sogar bei einer Erstbegehung am Dent de Jaman dabei gewesen war, hatte als begeisterte Alpinistin ein Flair auch für andere Bergführer von der härteren Sorte: Z.B. war sie mit Lionel Terray am Mont Blanc unterwegs gewesen, der die leidige Gewohnheit gehabt habe, als Tourenproviant immer „f...trockene“ Sablés mitzunehmen und dann bei jeder Gelegenheit, besonders aber vor schwierigen Stellen, z.B. am Noire-S-Grat, „de péter quand ca lui plaisait“. "Lionel,...mais je t'en prie!". Fiel die Rede aber auf Cassin, den sie liebevoll nur "Riccardo" nannte, und mit dem sie bei Gelegenheit auch einmal hatte klettern dürfen, verdrehte sie nur verzückt ihre Augen und konnte mit Schwärmen kaum mehr aufhören.
Als Stadtweichei vom Typ Warmduscher und Dünnbrettbohrer konnte ich mit derlei alpinistischen Schwergewichten natürlich nicht mithalten. Aber die Kingspitz-NE-Wand, die müsste irgendwie schon drinliegen: Lange ein mit einer Handvoll Normalhaken abgesicherter Klassiker, der es sogar in den „Extrem-Pause“ geschafft hatte, ist sie heute neben den neuen extremen Kletterrouten an den Wendenstöcken, in den Engelhörnern, am Kleinen Wellhorn, am Scheideggwetterhorn und und am Eiger längstens kein Topshot mehr, sondern nur noch eine gut abgesicherte, wenn auch trotzdem weiterhin nicht zu unterschätzende Plaisirroute der Schwierigkeit V/A0 oder VI. Damals strahlte die „King-NE“ aber noch einen gewissen Nimbus aus: So wurde z.B. Ende 70 in der JO unserer SAC-Sektion ein Film über eine Führerseilschaft gezeigt, von der einer der beiden im oberen Wanddrittel vom Blitz getroffen ins Seil stürzte, der andere ihn fixierte, über den Gipfel zur Engelhornhütte abstieg und die REGA alarmierte, worauf der Verunfallte gerettet werden konnte. Wir sollten natürlich daraus die Lehre ziehen, bei drohenden Gewittern nicht in eine solche Wand einzusteigen, welche Lektion ich mit allen andern ehrfürchtig beherzigte: so etwas würde uns sicher nie passieren...
Sommer 1994: Nach Jahren alpinistischen Müssiggangs hatte ich erst ein paar Jahre vorher wieder mit Klettern begonnen: Von Ausbildung und Beruf ausgebleicht und schwächlich geworden, waren meine Unterarme dünner als die Finger von André Georges, und der Sportkletterzug war längstens abgefahren. Aber die „King-NE“ geisterte immer noch in meinem Kopf herum, die müsste doch irgendwie immer noch drinliegen. Wieder mit einem Führer aus Grindelwald, diesmal einem jüngeren, schaffte ich die Wand im Nachstieg denn auch problemlos. Auch er erzählte mir eine Anekdote, die mich faszinierte: Der bekannte Hasliführer Sämi Abegglen hielt mit einem Gast Gipfelrast auf dem Kingspitz. Da entstieg plötzlich ein Alleingänger der NE-Wand: „Wo hesch dr Kolleg, wo ds Seil?“ Beides hatte er nicht dabei, und nach einem freundlichen Wortwechsel machte er sich hurtig an den Abstieg und entschwand.
Für Ueli Bühler aus Schwanden, Mitglied des legendären Kletterclubs „Bergfalken“, war dies freilich nur der Auftakt zu einer Reihe von spektakulären Alleingängen in den frühen 80er-Jahren u.a. durch die Cassin am Piz Badile, über den Wetterhornpfeiler und durch die Heckmair am Eiger gewesen: Letztere hatte er vom Margel bei Sigriswil solange beobachtet, bis die Verhältnisse optimal waren, und durcheilte sie dann in der damaligen Rekordzeit von rund 8 1/2 Stunden, um abends rechtzeitig zum Melken wieder zuhause zu sein. Aufgrund seiner herausragenden alpinistischen Leistungen wurde Ueli Bühler von K.M. Herrligkofer zu einer Expedition zum Nanga Parbat eingeladen, wo ihm die Erstbegehung des S-Pfeilers im Alleingang gelang, allerdings um den Preis der Erfrierung seiner Zehen. Die Füsse noch im Gips, sei er mit Krücken zum Training bereits wieder auf das Sigriswiler Rothorn gehumpelt. Und auf seine amputierten Zehen angesprochen, habe er lakonisch gemeint: wegen der nun geringeren Hebelwirkung könne er so noch einen Grad besser klettern...Mit einem bisschen Glück findet man da und dort seinen Namen in einem Gipfelbuch, z.B. auf der Hinderi Spillgerte oder dem Altels.
Sommer 1996: Lustlos lungerten mein Kollege und ich am Einstieg des „Haslizwärg“ am Rosenlauistock, Chäppis leichtester Route, herum. Beide hatten wir unsere Hausaufgaben wieder einmal nicht gemacht, schafften es nicht einmal bis zum zweiten Haken und konnten somit die Route genausogut vergessen. Bei der leichteren NE-Flanke fanden wir dann den Einstieg nicht. Erst jetzt, am späteren Vormittag und bei angekündigten Gewittern schon ab Mittag, kam mir dann die Glanzidee, in die „King“ einzusteigen, die kannte ich ja schon. Und schliesslich wollten wir diesem Tag doch noch etwas abgewinnen und nicht mit leeren Händen nach Hause kommen. Wir stiegen ein und kamen gut voran. Ueber dem Brienzergrat liessen aber dunkle Wolkentürme nichts Gutes ahnen, und schon bald ertönte erstes Donnergrollen von den Giswilerstöcken her. Kaum hatten wir die letzte schwierige Seillänge nach dem Wandbuch hinter uns gebracht, erreichte uns die Gewitterfront mit voller Stärke: von Panik ergriffen, rannten wir die Gipfelschlucht hinauf. Auf dem Gipfelgrat angelangt, erreichte die elektrische Spannung ihren Höhepunkt, unangenehm wahrnehmbar an Pelzgefühl und stehenden Haaren, fiel aber glücklicherweise am Standplatz auf der anderen Gratseite rasch wieder ab. Mit einer andern Seilschaft, die bei einer deutlich schwierigeren Ausstiegsvariante Zeit verloren hatte, sicherten wir uns zu viert an einem einzigen Haken. Die Intervalle zwischen den mittlerweile in unmittelbarer Nähe eingschlagenden Blitzen und den darauf folgenden Donnerkrachern waren bedrohlich kurz geworden: mit vor Angst klopfendem Herzen und sehnsüchtig schaute ich zum Hotel Rosenlaui hinunter und dachte wehmütig an die schöne Wirtin Christine, die uns immer Aprikosenkuchen und Kaffee serviert hatte, und die ich villeicht nie mehr sehen würde. Auch die Bemerkung eines der beiden Andern, dass man nach einem Gewitter einmal die verkohlten Leichen von Begehern der NE-Wand gefunden hatte, war wenig dazu angetan, unsere Stimmung zu heben. Als Blitz und Donner sich endlich nachliessen, gingen dafür umso heftigere Schauer nieder und bedeckten die W-Flanke mit der Normalroute, über die wir absteigen wollten, mit einer dicken Graupelschicht. Wir verzichteten wohlweislich auf den Gipfel und seilten uns direkt 50m in die W-Flanke ab: das vor Nässe triefende Doppelseil klemmte aber leider und liess sich nicht abziehen. Um keine Zeit zu verlieren, liessen wir es hängen, stiegen über einfache Stufen zur Kehle ab und seilten uns durch diese mit dem Doppelseil der Andern ab. Das Gewitter war weitergezogen, es klarte auf, die Gefahr war vorüber: Wieder einmal hatten wir mehr Glück als Verstand gehabt! Wir stiegen erleichtert zum Rosenlaui ab und kehrten wie neugeboren im Hotel ein. Zwei Tage später machte ich mich mit einem Einfachseil zum Kingspitz auf, um das Doppelseil zu holen, wobei mir der Gedanke, drei Seile hinuntertragen zu müssen, nicht gerade Flügel verlieh. Aber schon von Weitem konnte ich sehen, dass an der Abseilstelle und auch sonst weit und breit kein einziges Doppelseil mehr hing. Die Hüttenwartin gab mir dann die Adresse eines Kletterers, der es hinuntergetragen hatte. Er und sein Kollege hatten das einzig Richtige gemacht: Sie hatten den Abzug des Gewitters gesichert beim Wandbuch abgewartet, waren dann seelenruhig weiter zum Gipfel geklettert und von dort abgestiegen. Er schickte mir das Seil, und ich bedankte mich mit einem Haslikuchen.
Sommer 2005: nach den Unwettern und Ueberschwemmungen vom August konnte man endlich wieder ins Rosenlaui gelangen. Jahr für Jahr war ich durch verschiedene klassische, z.T. heute fast schon vergessene Routen in den Engelhörnern getingelt, die schweren Sportkletterrouten von Chäppi&Co jedoch konnte ich indessen wohl definitiv vergessen. Aber die „King-NE“, die musste nochmals drinliegen, und zwar diesmal ohne Kolleg, aber mit Seil, dafür in schweren Schuhen. Gewitter waren diesmal keine angesagt, aber zwei Drittel der Wand waren noch nass, zudem begannen nach einem klaren Morgen bald Nebel und Wolken zu quellen. Ich liess mich jedoch nicht verdriessen und stieg zum Einstieg hoch: Nun kletterte ich Seillänge um Seillänge mit Prusiksicherung hoch, machte Stand, seilte mich ab, hängte die Express aus, löste das untere Seilende und kletterte mit der Petzl-Schiebklemme von oben gesichert wieder hoch. Trotz Nebel- und Wolkenschwaden blieb das Wetter stabil, die Glöckchen der Schafe hallten beruhigend von den Felswänden des Ochsentals und die anfängliche Anspannung wich einem gleichmässigen Rhythmus. Gegenüber gewann eine Seilschaft an der Vorderspitze-W-Kante etwa gleich schnell an Höhe, manchmal drangen von leichten Windböen zerrissene Seilkommandos zu mir hinüber. Sonst nur Stille, Ruhe und tiefer Friede. Glücklich und zufrieden erreichte ich so den Gipfel, genoss das Spiel von Sonne, Wolken und herumtanzenden Dohlen und freute mich auf den wunderschönen Abstieg über den alten Kingspitzweg.
„Mändl“ hatte in den 30er Jahren aufsehenerregende Erstbegehungen wie 1935 jene der Ochs-NW-Wand oder 1938 jene der Kingspitz-NE-Wand gemacht, wobei Erstere bis heute nur wenige Wiederholungen aufweist (mehr zu Hermann Steuri hier). Meine Tante, die in jungen Jahren sogar bei einer Erstbegehung am Dent de Jaman dabei gewesen war, hatte als begeisterte Alpinistin ein Flair auch für andere Bergführer von der härteren Sorte: Z.B. war sie mit Lionel Terray am Mont Blanc unterwegs gewesen, der die leidige Gewohnheit gehabt habe, als Tourenproviant immer „f...trockene“ Sablés mitzunehmen und dann bei jeder Gelegenheit, besonders aber vor schwierigen Stellen, z.B. am Noire-S-Grat, „de péter quand ca lui plaisait“. "Lionel,...mais je t'en prie!". Fiel die Rede aber auf Cassin, den sie liebevoll nur "Riccardo" nannte, und mit dem sie bei Gelegenheit auch einmal hatte klettern dürfen, verdrehte sie nur verzückt ihre Augen und konnte mit Schwärmen kaum mehr aufhören.
Als Stadtweichei vom Typ Warmduscher und Dünnbrettbohrer konnte ich mit derlei alpinistischen Schwergewichten natürlich nicht mithalten. Aber die Kingspitz-NE-Wand, die müsste irgendwie schon drinliegen: Lange ein mit einer Handvoll Normalhaken abgesicherter Klassiker, der es sogar in den „Extrem-Pause“ geschafft hatte, ist sie heute neben den neuen extremen Kletterrouten an den Wendenstöcken, in den Engelhörnern, am Kleinen Wellhorn, am Scheideggwetterhorn und und am Eiger längstens kein Topshot mehr, sondern nur noch eine gut abgesicherte, wenn auch trotzdem weiterhin nicht zu unterschätzende Plaisirroute der Schwierigkeit V/A0 oder VI. Damals strahlte die „King-NE“ aber noch einen gewissen Nimbus aus: So wurde z.B. Ende 70 in der JO unserer SAC-Sektion ein Film über eine Führerseilschaft gezeigt, von der einer der beiden im oberen Wanddrittel vom Blitz getroffen ins Seil stürzte, der andere ihn fixierte, über den Gipfel zur Engelhornhütte abstieg und die REGA alarmierte, worauf der Verunfallte gerettet werden konnte. Wir sollten natürlich daraus die Lehre ziehen, bei drohenden Gewittern nicht in eine solche Wand einzusteigen, welche Lektion ich mit allen andern ehrfürchtig beherzigte: so etwas würde uns sicher nie passieren...
Sommer 1994: Nach Jahren alpinistischen Müssiggangs hatte ich erst ein paar Jahre vorher wieder mit Klettern begonnen: Von Ausbildung und Beruf ausgebleicht und schwächlich geworden, waren meine Unterarme dünner als die Finger von André Georges, und der Sportkletterzug war längstens abgefahren. Aber die „King-NE“ geisterte immer noch in meinem Kopf herum, die müsste doch irgendwie immer noch drinliegen. Wieder mit einem Führer aus Grindelwald, diesmal einem jüngeren, schaffte ich die Wand im Nachstieg denn auch problemlos. Auch er erzählte mir eine Anekdote, die mich faszinierte: Der bekannte Hasliführer Sämi Abegglen hielt mit einem Gast Gipfelrast auf dem Kingspitz. Da entstieg plötzlich ein Alleingänger der NE-Wand: „Wo hesch dr Kolleg, wo ds Seil?“ Beides hatte er nicht dabei, und nach einem freundlichen Wortwechsel machte er sich hurtig an den Abstieg und entschwand.
Für Ueli Bühler aus Schwanden, Mitglied des legendären Kletterclubs „Bergfalken“, war dies freilich nur der Auftakt zu einer Reihe von spektakulären Alleingängen in den frühen 80er-Jahren u.a. durch die Cassin am Piz Badile, über den Wetterhornpfeiler und durch die Heckmair am Eiger gewesen: Letztere hatte er vom Margel bei Sigriswil solange beobachtet, bis die Verhältnisse optimal waren, und durcheilte sie dann in der damaligen Rekordzeit von rund 8 1/2 Stunden, um abends rechtzeitig zum Melken wieder zuhause zu sein. Aufgrund seiner herausragenden alpinistischen Leistungen wurde Ueli Bühler von K.M. Herrligkofer zu einer Expedition zum Nanga Parbat eingeladen, wo ihm die Erstbegehung des S-Pfeilers im Alleingang gelang, allerdings um den Preis der Erfrierung seiner Zehen. Die Füsse noch im Gips, sei er mit Krücken zum Training bereits wieder auf das Sigriswiler Rothorn gehumpelt. Und auf seine amputierten Zehen angesprochen, habe er lakonisch gemeint: wegen der nun geringeren Hebelwirkung könne er so noch einen Grad besser klettern...Mit einem bisschen Glück findet man da und dort seinen Namen in einem Gipfelbuch, z.B. auf der Hinderi Spillgerte oder dem Altels.
Sommer 1996: Lustlos lungerten mein Kollege und ich am Einstieg des „Haslizwärg“ am Rosenlauistock, Chäppis leichtester Route, herum. Beide hatten wir unsere Hausaufgaben wieder einmal nicht gemacht, schafften es nicht einmal bis zum zweiten Haken und konnten somit die Route genausogut vergessen. Bei der leichteren NE-Flanke fanden wir dann den Einstieg nicht. Erst jetzt, am späteren Vormittag und bei angekündigten Gewittern schon ab Mittag, kam mir dann die Glanzidee, in die „King“ einzusteigen, die kannte ich ja schon. Und schliesslich wollten wir diesem Tag doch noch etwas abgewinnen und nicht mit leeren Händen nach Hause kommen. Wir stiegen ein und kamen gut voran. Ueber dem Brienzergrat liessen aber dunkle Wolkentürme nichts Gutes ahnen, und schon bald ertönte erstes Donnergrollen von den Giswilerstöcken her. Kaum hatten wir die letzte schwierige Seillänge nach dem Wandbuch hinter uns gebracht, erreichte uns die Gewitterfront mit voller Stärke: von Panik ergriffen, rannten wir die Gipfelschlucht hinauf. Auf dem Gipfelgrat angelangt, erreichte die elektrische Spannung ihren Höhepunkt, unangenehm wahrnehmbar an Pelzgefühl und stehenden Haaren, fiel aber glücklicherweise am Standplatz auf der anderen Gratseite rasch wieder ab. Mit einer andern Seilschaft, die bei einer deutlich schwierigeren Ausstiegsvariante Zeit verloren hatte, sicherten wir uns zu viert an einem einzigen Haken. Die Intervalle zwischen den mittlerweile in unmittelbarer Nähe eingschlagenden Blitzen und den darauf folgenden Donnerkrachern waren bedrohlich kurz geworden: mit vor Angst klopfendem Herzen und sehnsüchtig schaute ich zum Hotel Rosenlaui hinunter und dachte wehmütig an die schöne Wirtin Christine, die uns immer Aprikosenkuchen und Kaffee serviert hatte, und die ich villeicht nie mehr sehen würde. Auch die Bemerkung eines der beiden Andern, dass man nach einem Gewitter einmal die verkohlten Leichen von Begehern der NE-Wand gefunden hatte, war wenig dazu angetan, unsere Stimmung zu heben. Als Blitz und Donner sich endlich nachliessen, gingen dafür umso heftigere Schauer nieder und bedeckten die W-Flanke mit der Normalroute, über die wir absteigen wollten, mit einer dicken Graupelschicht. Wir verzichteten wohlweislich auf den Gipfel und seilten uns direkt 50m in die W-Flanke ab: das vor Nässe triefende Doppelseil klemmte aber leider und liess sich nicht abziehen. Um keine Zeit zu verlieren, liessen wir es hängen, stiegen über einfache Stufen zur Kehle ab und seilten uns durch diese mit dem Doppelseil der Andern ab. Das Gewitter war weitergezogen, es klarte auf, die Gefahr war vorüber: Wieder einmal hatten wir mehr Glück als Verstand gehabt! Wir stiegen erleichtert zum Rosenlaui ab und kehrten wie neugeboren im Hotel ein. Zwei Tage später machte ich mich mit einem Einfachseil zum Kingspitz auf, um das Doppelseil zu holen, wobei mir der Gedanke, drei Seile hinuntertragen zu müssen, nicht gerade Flügel verlieh. Aber schon von Weitem konnte ich sehen, dass an der Abseilstelle und auch sonst weit und breit kein einziges Doppelseil mehr hing. Die Hüttenwartin gab mir dann die Adresse eines Kletterers, der es hinuntergetragen hatte. Er und sein Kollege hatten das einzig Richtige gemacht: Sie hatten den Abzug des Gewitters gesichert beim Wandbuch abgewartet, waren dann seelenruhig weiter zum Gipfel geklettert und von dort abgestiegen. Er schickte mir das Seil, und ich bedankte mich mit einem Haslikuchen.
Sommer 2005: nach den Unwettern und Ueberschwemmungen vom August konnte man endlich wieder ins Rosenlaui gelangen. Jahr für Jahr war ich durch verschiedene klassische, z.T. heute fast schon vergessene Routen in den Engelhörnern getingelt, die schweren Sportkletterrouten von Chäppi&Co jedoch konnte ich indessen wohl definitiv vergessen. Aber die „King-NE“, die musste nochmals drinliegen, und zwar diesmal ohne Kolleg, aber mit Seil, dafür in schweren Schuhen. Gewitter waren diesmal keine angesagt, aber zwei Drittel der Wand waren noch nass, zudem begannen nach einem klaren Morgen bald Nebel und Wolken zu quellen. Ich liess mich jedoch nicht verdriessen und stieg zum Einstieg hoch: Nun kletterte ich Seillänge um Seillänge mit Prusiksicherung hoch, machte Stand, seilte mich ab, hängte die Express aus, löste das untere Seilende und kletterte mit der Petzl-Schiebklemme von oben gesichert wieder hoch. Trotz Nebel- und Wolkenschwaden blieb das Wetter stabil, die Glöckchen der Schafe hallten beruhigend von den Felswänden des Ochsentals und die anfängliche Anspannung wich einem gleichmässigen Rhythmus. Gegenüber gewann eine Seilschaft an der Vorderspitze-W-Kante etwa gleich schnell an Höhe, manchmal drangen von leichten Windböen zerrissene Seilkommandos zu mir hinüber. Sonst nur Stille, Ruhe und tiefer Friede. Glücklich und zufrieden erreichte ich so den Gipfel, genoss das Spiel von Sonne, Wolken und herumtanzenden Dohlen und freute mich auf den wunderschönen Abstieg über den alten Kingspitzweg.
Tourengänger:
lorenzo

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