Kurz vor 5 Uhr morgens stehe ich startbereit mit meiner Stirnlampe am riesigen Parkplatz „Thaneller“ in Berwang, es ist der 22. September 2024, es sollte noch ein wunderbarer Sonntag werden. Die Seehöhe hier beträgt 1320 m. Der Thaneller (2341 m) ist mit 3 h 10 min angegeben, etwa 1020 Höhenmeter sind es, fast durchgehend bergauf, bis zum Gipfel. Zeitdruck habe ich mir aber selbst keinen auferlegt, denn die Wanderung ist meine erste echte Alpen-Bergtour seit dem Juli 2011 (damals ging es von Navis auf den 2886 m hohen Lizumer Reckner in den Tuxer Voralpen), wenn man von der Besteigung des Hibok-Hibok auf den Philippinen und einigen Gipfeln in der Stirling Range in Westaustralien, allesamt "Eintausender", einmal absieht. Zunächst folge ich meiner Karte an der Talstation der Thanellerbahn bergan, die ersten Minuten begebe ich mich auf eine eingezäunte Weide. Nach Überqueren einer Forststraße führt der Wanderweg (Nr. „611“ auf der Kompass-Wanderkarte) westwärts durch steindurchsetztes, mageres Wiesengelände mit zahlreichen Silberdisteln, die mein Stirnlampenlicht erstaunlich gut reflektieren, danach schon bald in den Bergwald an der Südflanke des mächtigen Thaneller, der hier wie ein gewaltiger Außenposten der Lechtaler Alpen im Reuttener Becken steht. Geologisch besteht der Thaneller im Wesentlichen aus dem obertriassischen Hauptdolomit (oberstes Karnium und Norium), an der Südseite des Berges treten vereinzelt jedoch auch Mergel der Kössener Schichten (Norium-Rhätium) auf. Im Vergleich zum ebenfalls triassischen Wettersteinkalk (Anisium-Karnium), wie er etwa an der Zugspitze oder in den Mieminger Bergen ansteht, finde ich den Hauptdolomit deutlich "griffiger" und weniger rutschig unterm Schuh.
Schon nach einer guten Viertelstunde kommen zwei Stellen, die man gut und gern bereits als so eine Art „Schlüsselstellen“ dieses insgesamt – bis ganz hoch zum Gipfel – einfachen Wanderwegs bezeichnen könnte. Zuerst muss im Bereich des Grießbachs ein trockengefallener, kalkiger Murgang durchquert werden, ein paar Minuten später auch ein eher mergelig-erdiger Hangrutsch, so dass das Gelände dort (insbesondere am Hangrutsch) etwas steiler zum Tal hin abfällt. Der Weg ist aber recht gut ausgetreten, so dass dies keine größeren Probleme bereitet – bei Nässe sollte man aber dennoch vorsichtig sein, weil gerade das Hangrutschgelände ziemlich glitschig werden kann. Ein Abrutschen hier wäre sehr unvorteilhaft. Dasselbe gilt auch für die zahllosen Baumwurzeln, die den Bergwald in der Folge eine ganze Weile lang kennzeichnen. Die erste Hälfte des Wanderwegs durch den Wald, bis hin zum sogenannten „Kampeleplatz“ (auch: „Kampelplatz“), bietet immer wieder schöne Ausblicke auf Berwang, das Skigebiet mit dem Wasserspeicher und die umliegenden Berge, allen voran Zugspitze (2963 m), Bleispitze (2225 m) und Gartner Wand (2377 m). Um diese frühe Uhrzeit leuchten dort unten im Dorf noch die Lichter.
Ungefähr zwanzig Minuten vor Sieben erreiche ich den Kampeleplatz, wo sich die Wege von Berwang und Rinnen auf den Thaneller treffen und Steinmännchen den Aussichtspunkt auf ca. 1720 m markieren. Hier genieße ich die zunehmend freie Aussicht – die ersten Latschenhänge sind nur noch knapp 40 Höhenmeter entfernt und die Lechtaler Alpen breiten sich in ihren schönsten Morgenfarben vor mir aus. Hinter dem scharfkantigen Roten Stein (2366 m) leuchtet der Himmel rosa-bunt, der benachbarte Loreakopf (2471 m) reckt sich im Süden spitz in den Himmel, davor ist der Hönig (2034 m) auffallend stark verbaut mit Lawinenzäunen, die Berwang und das Tal schützen sollen. Gegen Südwesten sind die Heiterwand (2639 m) und die formschöne Namloser Wetterspitze (2553 m) dominant, daneben der mehrgipfelige Stock der Knittelkarspitze (2376 m), die während des Alpenglühens feurig leuchtet. Weiter im Hintergrund erkenne ich den Imster Muttekopf (2774 m) und die Große Schlenkerspitze (2876 m). Im Osten ist und bleibt das Wettersteinmassiv mit der Zugspitze ein absoluter Blickfang. Ein paar Minuten verweile ich. Das Gelände ist auf dieser Höhe schon deutlich von Schneefeldern durchsetzt, denn einige Tage zuvor hat es Mitte September einen echten kleinen Wintereinbruch gegeben.
Ab ca. 1850 m beginnt nun der reine Latschengürtel, der am Thaneller-Südhang bis auf eine Höhe von rund 2000 m reicht, und ich lasse den Bergnadelwald hinter bzw. unter mir. Hier in den Latschen lenkt der Wanderweg 611 auch in nördlicher Richtung auf den Südgrat des Berges, der nun in meist hin- und herschlängelnder Weise bis zum Gipfel nie mehr wirklich verlassen wird. Immer wieder müssen größere Felswände und -brocken umgangen werden, bei einer Steigung von 25–35% hält sich die Anstrengung dabei einigermaßen in Grenzen. Knapp unterhalb der 2000 Meter-Marke passiere ich eine erste Wetterstation am Wegesrand; unterhalb des Gipfels steht etwas südöstlich vorgelagert noch eine zweite.
Es ist 7:20 Uhr. Ich wandere weiter, Zeitdruck habe ich weiterhin überhaupt keinen. Die ersten Sonnenstrahlen schlagen mir ins Gesicht, sie haben ihren Ursprung genau zwischen Zugspitze und Schneefernerkopf, eine gigantische Stimmung bei völliger Ruhe. Mit steigender Höhe gewinne ich am Thaneller-Südgrat immer wieder auch weite Blicke nach Westen und Nordwesten ins wilde Lechtal, das sich durch ein weitgehend naturbelassenes Zopfstromsystem auszeichnet; im weiten, kiesigen Bett kann sich der Fluss, einer der letzten Wildflüsse Mitteleuropas, immer wieder seine eigene Ideallinie suchen. Darüber thronen in den Allgäuer Alpen Gaishorn (2247 m), Leilachspitze (2274 m), Großer Daumen (2280 m) und Nebelhorn (2224 m). Der Schatten des pyramidenförmigen Thaneller auf der anderen Seite des Lechtals beeindruckt mich. Langsam rückt auch der Hochvogel (2594 m) hinter der Schwarzhanskarspitze (2227 m) immer höher hervor. Die Berge um mich herum werden nun in ein sanftes, warmes Licht getaucht.
Ich befinde mich nun schon im Gipfelaufbau des Thaneller, wo ich den Wanderweg aufgrund der reichen Schneebedeckung immer wieder verlassen muss; im Kontext des Schwierigkeitsgrads am Ende dieses Reports gehe ich noch ein wenig näher darauf ein. Schon aus ordentlicher Distanz ist das stattliche Gipfelkreuz des Thaneller zu sehen, das man im Übrigen auch von ganz unten im Tal bei Heiterwang erkennen kann. Da ich heute ganz bewusst besonders langsam unterwegs bin, sollte es vom ersten Erblicken des Kreuzes bis zum „Abklatschen“ oben aber noch eine gute Stunde dauern. Bei dem Panorama hat es mich gar nicht gestört.
Kurz nach 09:00 Uhr bin ich schließlich oben auf 2341 m, immer wieder musste ich den verschneiten und vereisten Weg teils neu spuren, teils bin ich in die bis zu 30 cm tiefen Löcher älterer Schuhabdrücke eingesunken. Das hat irgendwie sogar Spaß gemacht, gefährlich wurde es eigentlich nie. Auf dem Gipfel des Thaneller bietet sich bei gutem Wetter ein spektakulär schönes Panorama, was diesen Berg natürlich nicht gerade zum "Geheimtipp" macht; mein Tipp: deutlich früher als die Massen aufsteigen! Im Norden und Nordosten präsentieren sich die Ammergauer Alpen mit dem markanten Säuling (2047 m), der langgezogenen Hochplatte (2082 m), der schroff-alpinen Kreuzspitze (2185 m und bis zum Jahr 1802 der höchste Berg Bayerns), und dem Duo von Upsspitze (2332 m) und Daniel (2340 m), den höchsten Ammergauern, die perfekt zum alles beherrschenden Wetterstein überleiten. Das Glanzstück des Thaneller-Gipfelpanoramas sind zweifelsohne Plansee und Heiterwanger See, die beinahe wie ein norwegischer Fjord in der Gebirgslandschaft liegen und türkisblau leuchten. Heute lichtet sich der Nebel über dem Seenpaar ausgerechnet zu der Zeit, als ich am Gipfel ankomme. Die Zugspitze (2963 m) mit dem Schneefernerkopf (2875 m), ihres Zeichens „the Top of Germany“, stehen eindrücklich über dem Zwischentoren, der engen Talschaft um Bichlbach, die das Reuttener mit dem Ehrwalder Becken verbindet. Im Osten und Südosten schließen sich die Mieminger Kette und Sellrainer Berge an. Ganz am Horizont, es ist noch etwas diesig, kann ich zwischen Zugspitze und Hoher Munde (2662 m) den Großvenediger (3657 m) in den Hohen Tauern ausmachen, wenn auch nur schemenhaft; er liegt 127 km vom Thaneller entfernt. Zwischen Südosten und Süden glänzen immer wieder einige der höchsten Gipfel Österreichs im Alpenhauptkamm heraus, so zum Beispiel die Stubaier Alpen mit dem Schrankogel (3497 m) und die Ötztaler Alpen mit der Wildspitze (3768 m), dem höchsten Berg Nordtirols. Bis etwa Westsüdwest nehmen die Lechtaler Alpen das Panorama ein. Zwischen Parseierspitze (3036 m), dem einzigen Dreitausender der Nördlichen Kalkalpen, und der Valluga (2809 m) im Arlberggebiet ragen auch noch einige prominente Gipfel des Verwalls mit heraus, so etwa Patteriol (3056 m) und Hoher Riffler (3168 m). Mit dem dominanten Hochvogel (2594 m) und dem Großen Daumen (2280 m) in den Allgäuer Alpen sowie Gaishorn (2247 m) und Köllenspitz (2238 m) in den dazuzählenden Tannheimer Bergen wird das Thaneller-Panorama sehenswert nach Nordwesten und Norden hin komplettiert. Es ist eine Gipfelschau vom Allerfeinsten, für die man sich auch entsprechend Zeit lassen sollte.
Ich verbringe etwa 45 Minuten hier oben, die meiste Zeit davon ganz allein, ich bin heute der Erste auf dem Thaneller und beginne den Gipfelbucheintrag für den Tag. Den kurzen Weg zum Aussichtspunkt etwas westlich des Gipfelkreuzes, der noch völlig eingeschneit ist, spare ich mir ausnahmsweise. Nach Norden hin sieht man von Weitem auch schon den beschilderten Einstieg in den Werner-Riezler-Steig, der den Thaneller auf seiner schroffen Nordseite in deutlich alpinerem Gelände durchquert; er ist wesentlich anspruchsvoller als der Normalweg über den Südgrat. Circa eine halbe Stunde nach mir kommt ein freundlicher Wanderkollege beim Kreuz an, der nach einer längeren Zeit in den Dolomiten nun auch die Nördlichen Kalkalpen genießen will.
Auf dem Rückweg, der auf derselben Route erfolgt, sehe ich dieses Mal Dinge und Details, die mir in der Dunkelheit des Morgens verborgen blieben. Auch die Stimmung ändert sich mit dem Lichteinfall über die Zeit. Einige Wanderer kommen mir nun entgegen, es ist schon nach 10 Uhr. So langsam wird es für den Pullover zu heiß, es ist perfektes T-Shirt-Wetter, und das auf über 2000 m im späten September! Im Tal scheint mir immer wieder Berwang entgegen, auf dem Thaneller-Parkplatz stehen nun einige weitere Autos. Der Schnee, der beim Aufstieg noch ziemlich vereister Bruchharsch war, ist mittlerweile sulzig aber dennoch griffig geworden, so dass sich ein Gehen darin recht angenehm anfühlt. Auch der Bergabmarsch durch den Latschengürtel und den Bergwald ist ein absoluter Genuss. Ohne jegliche Eile komme ich zur Mittagszeit am Thaneller-Parkplatz an und beschließe, vor meiner Abreise noch kurz die schmucke Kirche von Berwang, St. Jakobus, zu besuchen, die noch einen gotischen Chor von 1430 besitzt. Danach mache ich einen Abstecher zum Plansee, von wo ich den Thaneller bewundere, den ich heute Morgen bestiegen habe. Von hier aus sieht er mit seiner schroffen, 800 m hohen Nordostwand besonders beeindruckend aus!
An dieser Stelle noch ein paar Worte zum Schwierigkeitsgrad des „Normalweges“ auf den Thaneller von Süden: es handelt sich meiner Ansicht nach um eine Schwierigkeit im unteren T3-Bereich, also vielleicht eine T3-. Ein Einsatz der Hände am Fels ist in aller Regel nicht notwendig; möglicherweise habe ich sie ein, zwei Mal bei kleinen steinigen und wurzeligen Steilstufen zu Hilfe genommen, dann aber eher unterbewusst. Zwar hatte ich insgesamt keinerlei Schwierigkeiten, auf den Gipfel zu gelangen, dennoch halte ich die verschiedentlichen Wertungen von T2 auf hikr.org für tendenziell leicht unterbewertet; eventuell könnte man aber noch über ein T2+ diskutieren - das ist aber meine persönliche Auffassung. Gerade bei schneereichen Verhältnissen, wie ich sie heute vorfand, gestaltet sich die Wegfindung oft etwas schwieriger als üblich, da gerade der eigentliche Wanderweg am Westhang oft unter besonders hohem und selektiv stärker vereistem Schnee liegt als das Terrain daneben. Hier galt es heute, oberhalb von 2000 m immer wieder alternative Wegabschnitte zu finden, bevorzugterweise auf schneefreien Rasenpolsterstufen, die einen einigermaßen guten Halt und effektive Höhenmeter versprechen. Für heiße Sommertage ohne Schnee sind an der Südflanke des Thaneller mit Nachdruck angemessene Wasserreserven zu empfehlen.
Und ein kleiner individueller Nachtrag: Meine Zeit von ungefähr 7 Stunden für die Gesamttour ist sicherlich (deutlich) länger als bei regelmäßig aktiven Berggehern. Ich habe auf dieser ersten Hochgebirgswanderung nach über zehn Jahren bewusst auf viele Genuss- und Erholungspausen gesetzt, insbesondere am Kampelplatz zum Alpenglühen und am aussichtsreichen Gipfel, und wollte meine Gelenke und Bänder auf dem Bergabweg auch angesichts meines eher unvorteilhaften Körpergewichts ganz bewusst schonen, denn für den Oktober waren weitere leichtere aber äußerst lohnende Gipfelwandertouren geplant – so etwa zum Ponten (2045 m) in den Tannheimer Bergen oder zum Wannig (2493 m) in der Mieminger Kette.
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