Der hohe Berg mit "A"
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Der hohe Berg mit „A“
Eine Besteigung des Aconcagua (6960m) in kurzer Zeit, mit kleiner Ausrüstung und Glück
Von Karsten Müller
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n Südamerika gibt es viele Berge mit „A“, zum Beispiel den Ancohuma (6427m) in Bolivien oder den Nevado Ampato (6288m) in der südperuanischen Wüste, und natürlich den vielleicht schönsten Berg der Welt überhaupt, den bei Alpinisten sehr begehrten Alpamayo (5947m) in der Cordillera Blanca. Für dessen Besteigung muss man sich in 60° steilem Eis bewegen können, die Führerliteratur liest sich etwas abschreckend, Eislawinen und „enorm gefährliche, weit ausladende Wächten“ werden erwähnt, die „sehr erfahrene Eisgeher“ erfordern, und das sind wir im Sommer 2000 eigentlich nicht.
Aber der höchste Berg beider Amerika, der immerhin schon im Jahr 1897 erstbestiegene Aconcagua, scheint für unsere Ambitionen eventuell geeignet zu sein. So beschließen wir, unseren 4-wöchigen Urlaub um einen Besteigungsversuch dieses Gipfels herum zu planen. Wir wollen auf jeden Fall auch mindestens eine Woche in Patagonien und Feuerland unterwegs sein, und bei der Heimreise, zur postalpinen Erholung, einige Tage in Florida verweilen, also Zeit knapp.
Die Akklimatisation (an die von uns beiden bislang noch nie erreichte große Höhe) beginnen wir deshalb bereits eine Woche vor Abflug, indem wir am 11. und 12. November 2000 in bzw. oberhalb Saas Fee mit Snowboards bis auf ca. 3600m „pisteln“ gehen. Das Fahren auf dem Brett ist für mich ganz neu, geht recht gut, allerdings mit einigen spektakulären Stürzen, und mit nachfolgendem Oberarm-Muskelkater (vom immer wieder Aufstehen).
Den zweiten Teil des sorgfältig ausgearbeiteten Akklimatisationsprogramms absolvieren wir auf den Straßen und in Kaffees der schönen Bolivianischen Hauptstadt LaPaz, nachdem wir am 19.November auf dem Altiplano, in El Alto, immerhin ca. 4200m hoch, gelandet waren. Das Verladen der Rucksäcke in den Kofferraum des Taxis verursachte überraschend Kurzatmigkeit und Schwächegefühl; ein Hotel wählten wir zur Vorsicht am unteren Ende der City, ca. 3600m, wo wir symptomfrei schliefen. Die Höhenbelastung wurde dann planmäßig schrittweise gesteigert, zunächst (am Folgetag) mit einem Taxi-Ausflug auf den Chalcantaya, 5300m, dem Haus-Ski-Berg der Metropole. Sehr langsames Gehen in der Ebene geht, aber bei unvorsichtiger Schritt-Beschleunigung tritt heftiger Schwindel auf.
Zum Glück ist für den nächsten Tag eine erholsame Busreise geplant, die uns in den Lauca-Park bringt, in Nord-Chile an der Grenze zu Bolivien und Peru gelegen. Wir campieren am Lago Chungara, einem der höchstgelegenen Seen der Erde, in 4500m Höhe zu Füßen des nächsten Akklimatisationsziels, des Volcán Parinacota (6342m). Diesen besteigen wir in den nächsten beiden Tagen mit einem Hochlager auf 5300m, wobei uns die anhaltend das Fortkommen stark behindernden Büßerfirn-Bildungen (Penitentes) ausreichend von etwaigen Höhen-Beschwerden ablenken. Wir schlafen noch mal auf 4500m, reisen dann mit Bus sehr bequem durch die Küstenwüstenlandschaft hinab und zum Schluss in grünem Tal nach Arica am Pazifik. Anderntags, am 25.November, fliegen wir nach Santiago, fahren am 26., wieder mit dem Bus, über den 3832m hohen Paso de la Cumbre nach Argentinien, und erreichen Puente del Inca (2720m), den Startpunkt für Aconcagua-Normalweg-Aspiranten, Kurort, Thermalbad, Garnison. Hotelzimmer. Argentinische Steaks. Spaziergang zum Eingang des Parque Provincial. Sonnenschein. Und der große Berg mit seinem breiten weißen Haupt schon ziemlich nah am Talende zu sehen. Von den Park-Rangern erhalten wir hier die schlechte Nachricht: Das permiso für die Besteigung gibt es, entgegen der zuvor eingeholten Auskünfte, doch weiterhin nur in der Bezirkshauptstadt Mendoza, 190 Kilometer entfernt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht an einem Tag hin und zurück zu schaffen. Also am nächsten Tag früh an die Straße, per Anhalter, mit Pkw, Bau-Laster, zuletzt mit Schulbus in die schöne, grün wirkende Stadt. Cocktails in der Fußgängerzone unter schattenspendenden Bäumen, Obst und Diamox[1] gekauft, für die Besteigungsgenehmigung zweimal 80, - Dollar, Vor-Saison-Preis. Dazu bekommt man dann noch einen nummerierten Müllsack, der am Schluss, gefüllt, wieder abgegeben werden soll. Ein Bus zurück nach Puente del Inca fährt nicht mehr, aber ein Auto lässt sich organisieren,... Abends dann im Hotel noch mal Zivilationsluxus genossen, und zwei Rucksäcke zum Muli-Transporteur gebracht.
Zügig bringen wir am 28.November mit leichtem Gepäck die 40 Kilometer durchs Horcones-Tal zum Basislager Plaza da Mulas (4230m) hinter uns, bekommen unser von den Maultieren transportiertes Gepäck und bauen noch bei Tageslicht das Zelt auf, schöner Abend. Im Lager ist nicht viel los, die Saison beginnt ja gerade erst, höchstens 20 Zelte, blaue Mannschaftsunterkünfte, einige von bekannten Veranstaltern dabei. Wir fühlen uns gut, hoffen (noch) ausreichend höhenakklimatisiert zu sein, und wollen versuchen, in den nächsten drei Tagen den Gipfel zu erreichen.
Die sonnige Nordflanke des Berges ist aus der Nähe eher ein rötlicher Schutthaufen, Geröllhänge, mit Felszacken garniert, und von Steigspuren durchzogen. Durch diese geht es nun stetig mühsam hinauf, ringsum steigen mehr und mehr weiße Schneeberge hinter dem sinkenden Horizont hervor, teils sanft, teils mit zerrissenen Gletschern, Ski-Touren-Gelände. Das erste Lager, Plaza Canadá, mit gelben Kuppeln einer kleinen japanischen Zeltstadt, lassen wir rechts liegen, und erreichen den Platz Nido de Condores, 5200m, unser Lager I. Es handelt sich dabei um eine Art Hochfläche, einen sehr breiten Sattel, eine Kiesfläche mit einigen Felsbrocken und kleinen Türmen bedeckt. Der Abend bringt Wolken, Wind, etwas Schnee und Kälte. Aber am nächsten Morgen scheint die Sonne wieder, wir gehen es ruhig an. Das Zelt wird trocken eingepackt, und dann wieder ermüdendes allmähliches Ansteigen durch die von hier aus nur langsam an Steilheit zunehmende Nordflanke. Vorbei am Balcón Amarillo mit dem Antartida Argentina, 5500m, wo zwei zerfallene Holzhütten stehen, teilweise zwischen kleinen Felswänden hindurch, aber immer „Gehgelände“, Pfadspur im festen Geröll-Kies, allenfalls einige Zentimeter Schnee darauf. Am Refugio Berlin, 5780m, machen wir bei schlechter werdendem Wetter eine längere Rast. Hier, nach manchen Quellen auf 5850m, steht eine intakte feste Holzhütte mit Blechdach, die „Neue Berliner Hütte“, im Jahr 1998 von der DAV Sektion Karlsruhe mit Hilfe Argentinischer Soldaten errichtet. Um unsere Gipfel-Chance für den nächsten Tag möglichst zu erhöhen, steigen wir noch etwas weiter, schon ziemlich bein-müde, und auch atem-schwach. Lager II wird irgendwo zwischen Piedras Blancas, 6030m, und Piedras Negras, 6200m, in einer kleinen, fraglich windgeschützten Einsattelung errichtet. Gudrun ist leicht apathisch, ich bin auch erschöpft, zur Nacht greifen wir, nach Bereitung eines leckeren Instantmenüs und längerem Schneeschmelzen, zu medikamentösen Maßnahmen.
Auch der 1.Dezember ist ein schöner Tag. Der Fotoapparat ist kältebedingt bei schon etwas gebrauchter Batterie spannungslos, also ausgefallen; die Reservebatterie erweist sich als ebenfalls nicht mehr stromgebend. Wir fühlen uns dagegen ausreichend fit, und steigen bald ohne Eile frohen Mutes weiter auf. Über unsere dabei erreichte Höhe haben wir keine genaue Kenntnis, ob wir dem Armbanduhr-Höhenmesser vertrauen können, scheint uns zweifelhaft, und die Geländepunkte sind nicht eindeutig zuzuordnen. So sind wir unserer Sache keineswegs sicher, als wir die lange Querung zur Canaletta beginnen. Psychologisch ist dies der problematischste Teil der Route, denn man verlässt die besonnte und relativ windarme Nordflanke, um den Anstieg durch die Geröllrinne in der schattigen Westseite zu erreichen. Hier ist es sofort grauenhaft kalt, die Hände werden auch in dreifachen Handschuhen nicht mehr warm, der Wind bläst gnadenlos herauf, erst in der Mitte der Querung gewährt ein kleiner Felsturm etwas Schutz. Hinhocken, Ausruhen, Luftholen, nach oben blicken: Jetzt wird es richtig anstrengend, steil, kein fester Punkt im Gemisch aus losem Geröll und Altschnee. Im Käfertempo, und immer öfter auch im Käfergang, quälen wir uns hinauf. Ganz allmählich wird uns klar, dass wir jetzt dem höchsten Punkt doch schon recht nahe sind, wenn auch nie so nah, wie es aussieht. Endlich verlassen wir die schattige Rinne, und wir spüren, dass wir es schaffen werden. Die Einschartung zwischen Haupt- und Südgipfel erlaubt den Blick auf die andere Seite, nach Osten, und hinüber, zum ersehnten Ziel, von hier aus im Norden, unter der jetzt hoch stehenden Sonne. Der fast waagerechte Grat, teils mit großen Felsblöcken geziert, sieht einfacher aus, als er dann ist, und fordert noch mal mehr Zeit, als gedacht. Zuletzt bewegen wir uns mit der Eleganz und Leichtfüßigkeit von hundertjährigen Schildkröten, die an Asthma, Rheuma und Narkolepsie gleichzeitig leiden...
Der Gipfel selbst, höchster Berg der Neuen Welt, und überhaupt außerhalb Asiens, ist eine nur leicht geneigte große Hochfläche, mit einem enttäuschend mickrigen Mini-gipfelkreuz bei einem kleinem Steinmann. Der Erstersteiger, Matthias Zurbriggen, Bergführer aus der Schweiz, soll sich 1897 zunächst eine Pfeife angesteckt haben. Dann errichtete er nach seinem eigenen Bericht einen zwei Meter hohen Steinmann, „... wie das bei Erstbesteigungen so üblich ist, wenn sich geeignetes Material vorfindet, und die Arbeit ging mir so leicht von der Hand, als ob ich in der Ebene wäre.“
An den Abstieg kann ich mich nicht mehr so gut erinnern, wahrscheinlich sind doch ein paar Hirnzellen in der Höhe geblieben. Jedenfalls erreichten wir ohne Probleme bei weiter gutem Wetter am frühen Abend das base camp, fanden unsere kleines zurückgelassenes Depot unversehrt vor und gingen, dann doch unter großen Mühen, hinüber zum „Hotel“ auf dem gegenüberliegenden Moränenrücken, weil wir Sehnsucht nach dem Hauch von Komfort und keine Lust zum Aufbauen des Zeltes hatten. Die Stimmung war naturgemäß sehr gut, das Etablissement hingegen eher enttäuschend. Am nächsten Tag liefen wir, diesmal mit Gepäck, bei heraufziehendem schlechtem Wetter und schließlich grollendem Unwetter hinter uns, geschwinden Schrittes (anfangs) zurück nach Puente del Inca. Lediglich für das letzte Stück, vom Parkeingang bis zum Hotel, konnten wir eine Mitfahrgelegenheit entern, und waren äußerst dankbar dafür. Wir feierten unseren Erfolg mit großen argentinischen Rindfleischportionen, Rotwein aus der Region und zwei Jungs aus dem Zillertal, die einen Tag vor uns auf dem Gipfel waren.
Keine Frage, das Glück war auf unserer Seite: Wetter ideal, Akklimatisation optimal, Ausrüstung minimal, aber der Plan war auch gut. Und er ging auch zeitlich am Ende trotz Permit-Stress auf; in Santiago hatten wir noch einen Reservetag übrig, vor unserem fest gebuchten Flug zu anderen schönen Bergen, nach Puntas Arenas, Patagonien.
Nach Tagebuchaufzeichnungen geschrieben im November 2003
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