Vincent-Pyramide, Balmenhorn, Corno Nero, Punta Felik, Il Naso del Lys/ Schneedomspitze, Castor, Parrotspitze, Signalkuppe/ Punta Gnifetti, Zumsteinspitze, Ludwigshöhe, Punta Giordani: zwölf 4000ender in einer Woche, - dies war mein Einstieg in die Welt der hohen Alpengipfel. Völlig daneben - 4000ender-Gipfel-Sammeln en masse, aber damals angebracht: Eine Woche lang war ich im August 2004 mit Frigg Hauser von der Bergschule Tödi auf der Südseite des Monte-Rosa-Massivs unterwegs. Allesamt sind es technisch einfache Schneeberge, sie verlangen Kondition und Respekt, letzteres steht jedem Berg zu.
Dieser Bericht basiert auf einem vor zwei Jahren abgefassten Text über die Tour, ist allerdings modifiziert und weniger persönlich formuliert. Dennoch gebe ich darin einiges preis und dies sehr bewusst: Denn schliesslich gehören genau diese Dinge, meine Vergangenheit, zu meinem Leben und haben meine Haltung und Gefühle in und um die Berge massgeblich beeinflusst. Die Berge, - meine Kraft: Dies ist nicht nur ein Spruch, sondern gelebte Erfahrung.
"Geh in die Berge, das wird dir gut tun", meint Michele, mein damaliger Lebenspartner. Er ist schwer krank und wird sterben. Wir beide wissen es. Eine schwierige Zeit, also gehe ich, muss gehen, meine Batterien auftanken. Unsere gemeinsamen Sommerferien haben wir aus Krankheitsgründen gestrichen, die kanarischen Inseln, Teneriffa, wären geplant gewesen, - daraus wurde nichts mehr. Auftanken also in den Bergen, lernen mit der Verzweiflung, mit der Ohnmacht zu leben.
Am Sonntag, 8. August 2004 fahre ich mit meinem Fiat von Luzern nach Alagna Valsesia (1200m.ü.M.). Parkieren, den Tourenrucksack überprüfen und dann auf zum Treffpunkt mit der Gruppe. Organisiert wird diese Tourenwoche von der Alpinschule Tödi. Unsere Bergführer sind Frigg Hauser, der Besitzer der Bergschule und ausgebildeter Bergführer, und Dani - seinen Nachnamen weiss ich nicht mehr - einem Bergführer-Aspiranten.
Insgesamt sind wir elf Leute, aber im Laufe der Tourenwoche werden es weniger: Einige geben auf, sind den konditionellen Ansprüchen nicht gewachsen. Für mich ist's nebst vielem anderen die Erfahrung meiner konditionellen Möglichkeiten im Hochgebirge, - grossen Möglichkeiten und dafür bin ich dankbar.
Nebst mir ist noch eine zweite Frau in der Gruppe: Renate, sie nimmt gemeinsam mit ihrem Mann Beat an dieser Woche teil.
Nach einem etwa dreistündigen Aufstieg verbringen wir die erste Nacht im Rifugio Mantova auf 3498m.ü.M.: Ich erinnere mich an den Primo Piatto - in italienischen CAI-Hütten gibt's den immer - natürlich Pasta. :-)
In der Hütte erlebe ich erstmals, wie sich ein Höhenkranker fühlt: Ein Teilnehmer einer anderen Berggruppe sitzt kreidebleich, schwer atmend, apathisch auf einer Holzbank, währenddem wir essen. Ich habe das Gefühl, er könnte jederzeit ohnmächtig werden. Drei andere Bergsteiger begleiten ihn - es ist mittlerweile bereits Abend und dunkel - ins Tal hinunter, ein nicht ganz leichter Abstieg. Die Mantova-Hütte erreicht man nur über einen Klettersteig, Ketten und Stahlleitern inklusive.
Montag, 9. August 2004: Frühmorgens - um 03.30Uhr - brachen wir vom Rifugio Mantova auf: Immer dieses Gedränge am Morgen in den Hütten, bis heute habe ich mich nicht daran gewöhnt, aber es gehört halt dazu und man entwickelt seine Strategien: Zurück zum morgendlichen Chaos: Du suchst deine Socken, Steigeisen, sollst du den Klettergurt nun bereits anziehen oder noch nicht, wenn du doch anschliessend noch einmal aufs Klo solltest, wo sind die Handschuhe und überhaupt ist die dort nicht meine Sonnencrème...Obwohl ich mir mittlerweile immer alles am Vorabend peinlichst genau bereitlege, muss ich mich auch heute noch gewaltig sputen, um gleichzeitig mit den anderen bereit zum Abmarsch zu sein. Woran's liegt, hab' ich bis dato nicht rausgekriegt. Die anderen sind einfach schneller, da wenigstens noch, nachher - im Aufstieg - sieht die Sache oftmals anders aus; dann kommt meine Zeit, - meine Stärke: die Kondition.
Wir steigen auf, vorbei an der Gnifetti-Hütte auf 3647m.ü.M., immer höher: Langsam bricht der Tag an, das Wetter ist nicht optimal, - Nebel bedeckt den Himmel, noch können wir uns gut orientieren, er soll bloss nicht dichter werden. Dann visieren wir den ersten Gipfel an: die Vincentpyramide auf 4215m.ü.M., - mein erster 4000ender! Niemals werde ich das Gefühl vergessen, als ich meinen Pickel in den Schnee rammte, die Hände in die Höhe hob und schrie vor Freude: Ich hatte es geschafft, ohne grosse körperliche Anstrengungen, auch die Höhe ertrug ich bisher sehr gut: Mein erster 4000ender, - die Vincentpyramide. Zwar ein reiner Schneegipfel, aber immerhin ein 4000ender.
Von der Vincentpyramide geht's aufs Balmenhorn, die Punta Balmenhorn, mit 4167m.ü.M. zwar nicht ganz so hoch wie der erste Gipfel, dafür aber mit einfacher Felskletterei verbunden; etwas, was ich schon damals - auf meinen ersten Hochgebirgstouren heiss liebte. Auf dem Gipfel steht eine Jesus-Statue und ein kleines Biwakhäuschen: Nicht grade Abenteuer-Feeling bewirkend...
Später dann - im Verlaufe des Tages - den Corno Nero (4322m.ü.M.) und die Querung über den Passo il Naso in ein anderes Tal, dabei noch auf il Naso, die Schneedomspitze (4272m.ü.M.). und dann Abstieg ins Rifugio Quintino Sella auf 3578m.ü.M.: Wie ich vier Jahre später lernen sollte, gibt's deren zwei, also zwei Rifugi mit dem Namen Quintino Sella, das andere befindet sich beim Monviso (3841m.ü.M.), etwa auf der Höhe Cuneos. Der Weg ins Rifugio ist beschwerlich, beim Abstieg vom Passo il Naso rutscht ein Bergkamerad der zweiten Seilschaft aus, das Gelände ist jedoch nicht sehr steil, so können sie den Sturz abbremsen. Dani, der Aspirant, beschliesst, bei den heiklen Passagen Eisschrauben zu setzen, - das braucht viel Zeit. Nach dem Abstieg auf den Gletscher wandern wir scheinbar stundenlang im White-out, alles ist weiss, - der Himmel, der Gletscher, die ganze Welt. Wir folgen Frigg und Dani, die uns sicher den Weg weisen. Ein älterer Bergkamerad - der Mann ist bereits über 70 - stürzt wieder und wieder, er ist erschöpft und kann nicht mehr. Er ist in meiner Seilschaft, immer wieder halten wir an, warten und motivieren ihn, ziehen, schleppen. Irgendwann kommen wir im Rifugio an und werden mit einer herrlichen Pasta belohnt. :-)
Nach diesem ersten Tag brechen zwei der Gruppe die Tour ab und beschliessen, am nächsten Morgen ins Tal abzusteigen, sie fühlen sich den konditionellen Anforderungen nicht gewachsen: Ein stetes Problem bei kommerziell durchgeführten Touren, denke ich. Es war jedenfalls meine erste und letzte Tour mit einer Bergschule, - besser, sich die Bergfreunde und Tourenkollegen auf Touren direkt bzw. einfach selbst auszusuchen.
Abends telefoniere ich mit Michele: Alles in Ordnung in Luzern und wenn, - er würde es mir nicht sagen wollen. Ich schlafe jedenfalls gut, trotz oder dank der Höhe, - dem Himmel stets etwas näher...
Aber meine Gedanken, schlussendlich gelingt es mir nicht ganz, sie zu verdrängen, - die Angst wird zur Gewissheit, es ist die Zeit des Abschieds in meinem Leben, aber auch der Neuorientierung, ein neuer Lebensabschnitt wird beginnen.
Das Leben, unsere Zeit hier, - alles nur begrenzt. Meine Erfahrungen in den Bergen, zutiefst berührend, haben mir gezeigt, worauf es für mich ankommt: Intensiv und bewusst zu leben, den Moment des Glücks zu erkennen. In den Bergen lebe ich mein Glück, hier bin ich frei und eins mit der Kraft und Erhabenheit der Natur.
Nächstentags, Dienstag, 10. August 2004, brechen wir um 04.00Uhr auf mit dem Ziel: Castor. Über den Südgrat steigen wir höher und höher, - zum Schluss über einen herrlichen Schneegrat auf den Gipfel des Castor. Immer wieder durchdringt die Sonne das Nebelmeer, das Grau dieses Bergtages und flutet uns, Schwaden reissen auseinander, entzweien sich und geben Tiefblicke frei. Der Castor (4221m.ü.M.), - ein formvollendeter, schöner Berg. Rückkehr ins Rifugio Quintino Sella.
Nach erfolgreicher Besteigung des Castors am Vortag präsentiert sich das Wetter am Mittwoch, 11. August 2004 noch schlechter: Dichter Nebel und intensiver Dauerregen zwingen uns zum Abstieg über Geröllblockhalden ins Tal. Wir erreichen Gressoney-la-Trinité gegen Mittag und queren mit der Seilbahn nach Osten. Am späteren Nachmittag treffen wir wieder in der Mantova-Hütte (3498m.ü.M.) ein, wo wir bereits die erste Nacht verbracht hatten. Am Mittwoch werden also keine 4000ender bestiegen, sondern von einem Tal ins andere gequert. Wieder entschliesst sich einer aufzugeben und nicht mehr in die Hütte mithochzukommen, der Regen schwächt zusätzlich und wenn die Kondition fehlt, wird's schwierig.
Donnerstag, 12. August 2004: Der Tag beginnt wieder mal früh, die Zeit weiss ich nicht mehr. Wir steigen auf, vorbei am Rifugio Gnifetti, immer höher und besteigen die Zumsteinspitze auf 4563m.ü.M. Ich sehe erstmals die Dufourspitze aus nächster Nähe. Erfahrene Alpinisten machen die Traversierung Zumsteinspitze - Dufourspitze, höre ich und denke, dass ich dies vielleicht auch eines Tages tun werde. Die Sache sieht interessant aus, Fehltritte sind nicht erlaubt, 3000 Meter geht's nach Süden runter, nach Norden vielleicht die Hälfte. Der Schlussteil auf die Zumsteinspitze ist sehr einfache Felskletterei.
Nach der Besteigung der Zumsteinspitze gönnen wir uns die Punta Gnifetti, die Signalkuppe. Auf 4554m.ü.M. befindet sich dort die höchstgelegene Hütte der Alpen, die Capanna Regina Margherita, benannt nach der zur Bauzeit herrschenden italienischen Monarchin Margherita. Sie hat die Hütte übrigens später auch mal besucht, sie wurde hinaufgetragen. Kein fliessendes Wasser in der Margherita-Hütte, ist ja logo, dafür Tiefblicke: 3000 Meter fällt die Südwand der Punta Gnifetti ab, Steigeisen oder sonstige, hinabgeschmissene, fallengelassene Utensilien kannst du mehr oder weniger in Alagna wiederholen. Oder die Resten davon...;-)
Es war wohl an diesem Tag oder in dieser Tourenwoche, vielleicht aber auch schon früher, vielleicht an Ostern 2004, als ich den Piz Palü bestieg, dass mich die Sucht, hohe Berge zu besteigen, Felswände zu erklettern, Grate zu überschreiten, Eisschrauben zu setzen... wirklich packte. Ich wollte lernen, wie man sichert, wie man klettert, schwierige Passagen bewältigt, wie man traversiert, Spaltenrettung, auch dies ein Thema. Die Berge, sie wurden eine Sucht, eine Sehnsucht, meine Rettung, ein Hort der Zuflucht, des Vergessens bzw. des Krafttankens, sie wurden meine Stärke, meine Bestätigung, die Überwindung, - sie wurden Teil meines Lebens: Lebensberge.
Freitag, 13. August 2004: Früh aufstehen, wie immer, und ab geht's von der Capanna Margherita (4552m.ü.M.) in stürmischem, kalten Wind auf tiefer gelegene 4000ender: Wir besteigen die Parrotspitze (4436m.ü.M.), die Ludwigshöhe (4342m.ü.M.), die Roccia Nera (4075m.ü.M.) und schliesslich - aber nur noch ein kleiner Teil der Gruppe, ich mit vier Männern der Gruppe - die Punta Giordani (4046m.ü.M.). Mir geht's prächtig, auch am sechsten Tag der Tour. Inzwischen bin ich bestens akklimatisiert und könnte Bäume ausreissen, nicht mal Blattern habe ich. Nach getaner "Besteigung" steigen wir am Nachmittag ins Tal nach Alagna ab, für den letzten Teil benutzen wir die Seilbahn. Ein Schlusstrunk und noch einmal die Woche revue passieren lassen. Zurück in der Zivilisation werden wir uns auch unserer Ausdünstungen und "Düfte" gewahr, bestens gediehen im Laufe einer Woche im Hochgebirge. Noch einmal ein Blick zurück ins Hochgebirge, in diese fremde, abweisende und doch so faszinierende Welt, - lebensfeindlich, nicht geschaffen für Menschen und dennoch zu einer Sehnsucht geworden, - meine Seelenheimat.
Verabschiedung von den anderen Teilnehmern und Heimfahrt nach Luzern. Nur eine Woche später - am 21./ 22. August 2004 - besteige ich den höchsten, ganze auf italienischem Territorium befindlichen Gipfel Italiens, den Gran Paradiso (4061m.ü.M.). Hierzu jedoch ein anderer Bericht.
Eine Woche, die mein Leben veränderte: Sie war meine Kraft in den den darauffolgenden Monaten: Michele starb am 31. Dezember 2004. Mit dieser Woche, mit den Hochtouren, begann ein neuer Lebensabschnitt: In die Berge, - hierhin werde ich immer wieder zurückkehren, sie sind meine Kraft: Dem Himmel so nahe...
Tiefste Dankbarkeit für dieses Leben und meine Möglichkeiten.
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