Besichtigung eines Mittelstrecken - Atomraketensilos der UdSSR in Litauen 2009.
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Die nuklearen Mittelstreckenraketen, die von der UdSSR in der Litauischen SSR in unterirdischen Raketensilos stationiert wurden, richteten sich wegen ihrer mangelnden Zielgenauigkeit gegen „weiche Ziele“, also Städte und deren Bevölkerung in Westeuropa. Die Atomraketen waren im westlitauischen Plokstine von 1962 bis 1978 stationiert, anschließend wurden sie abgezogen. 2005 - 2012 organisierte ein kleiner, litauischer Kulturverein erste, nur gelegentlich stattfindende, Besichtigungen der längst aufgegebenen Raketensilos. In diese Zeit fiel mein Besuch im Jahre 2009.
Kurzer Abriss der Geschichte der Atomraketensilos in Plokstine:
Die Anfänge 1960 bis 1962
Ausgehoben wurden die vier jeweils 25 Meter tiefen Raketensilos ab 1960 in einem abgelegenen und stark bewaldeten Gebiet der zur UdSSR gehörigen Litauischen SSR. Gegraben wurde aus Gründen der Geheimhaltung ohne schweres Gerät (Bagger etc), sondern nur mit Handwerkzeugen (Schaufeln). Die 10 000 Bauarbeiter stammten fast ausschließlich aus der benachbarten Estnischen SSR.
1962 bis 1978
Ab Dezember 1962 (unmittelbar nach der Kuba-Krise) befanden sich 16 Jahre lang insgesamt 8 gefechtsbereite, nukleare Mittelstreckenraketen am Standort. In demselben Zeitraum waren in unauffälligen Kasernen direkt neben der Anlage auch 300 UdSSR-Soldaten als ständige Wach- und Wartungsmannschaft stationiert. Die vier unterirdischen Raketensilos waren permanent mit Atomraketen bestückt. Des weiteren waren vier Ersatzraketen auf dem Gelände gelagert.
Die Mittelstrecken-Raketen vom Typ R 12 "Dvina" (die abweichende Bezeichnung der NATO für diese Raketen lautete SS 4 "Sandal“) hatten eine Reichweite von 2300 km, somit konnten die Raketen von Litauen aus ganz Westeuropa mit der Ausnahme von Island, Zypern und einem Teil der Iberischen Halbinsel erreichen.
Die 23 Meter langen Mittelstreckenraketen trugen jeweils einen 4 Meter langen nuklearen Sprengkopf mit einer Sprengkraft von etwa 1,3 Megatonnen TNT, das entspricht etwa dem Hundertfachen der Hiroshima-Bombe, deren Sprengkraft nur 13 Kilotonnen TNT betrug (1Mt = 1000 Kt). Die Raketen waren nicht zielgenau und richteten sich deshalb auch nicht gegen strategische, sogenannte "harte Ziele", sondern gegen "weiche Ziele", das waren Großstädte und deren Bewohner.
Was wäre im Ernstfall passiert? Zunächst wäre ein codierter telefonischer Einsatzbefehl in dem rund um die Uhr mit zwei Soldaten besetzten unterirdischen Wachraum eingegangen. Ein „Zwei-Schlüssel-System“ nach dem "4 Augen-Prinzip" hätte die Startfreigabe ermöglicht. Erst nach dieser Freigabe hätten die Raketen betankt werden können. Ein in der Anlage befindlicher Motor hätte gleichzeitig die oberirdischen Abdeckungen der vier Silos aufgeklappt. Anschließend hätten die Raketen nach dem Startbefehl ihre Siloschächte unwiderruflich in Richtung Westeuropa verlassen…
Die nach dem Abschuss leeren Silos hätten für einen zweiten Einsatz mit den schon erwähnten 4 Ersatzraketen nachgeladen werden können. Eine Neubestückung der vier Siloschächte mit den 23 m langen Raketen hätte aber einen erheblichen logistischen und zeitlichen Aufwand bedeutet und wäre im Ernstfall unrealistisch gewesen.
Mobile, oberirdische, LKW- Raketenabschusslafetten, wie es sie anderswo in der UdSSR gab, waren in der Umgebung von Plokstine nicht vorhanden, wohl auch, um die gut versteckte, größtenteils unterirdische Anlage möglichst unauffällig zu halten.
1978 bis 2012
Erst im Jahre 1978 wurde die Anlage von der CIA entdeckt und bald darauf von der UdSSR aufgegeben. Die Sprengköpfe, Wachmannschaften und Militärtechniker wurden aus Plokstine abgezogen und die technisch entkernte Anlage wurde so, wie sie war, zurückgelassen.
1990 erlangte Litauen seine Unabhängigkeit von der UdSSR und hatte zunächst natürlich andere Sorgen, als sich um die militärischen Hinterlassenschaften der UdSSR zu kümmern. Die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen in Litauen waren weitgehend zusammengebrochen. Die verlassenen Kasernengebäude und Raketensilos in Plokstine wurden von der Landbevölkerung ausgeplündert. Die Weiterverwertung des Aluminiums des großen Treibstofftanks erwies sich als verhängnisvoll, denn Raketentreibstoff ist hochgiftig und einige Todesfälle waren die Folge. Das sind die einzigen und noch dazu ganz unbeabsichtigten Personenschäden, die von der Atomraketenstation in Plokstine seit ihrer Inbetriebnahme 1962 verursacht wurden.
2005 gründete sich ein Kulturverein, der die zunächst verlassene und dann ausgeplünderte Anlage sicherte, notdürftig begehbar machte und bis 2012 erste Besichtigungen ermöglichte.
Die Besichtigung 2009
Ich hatte eher zufällig, anlässlich eines leider fehlgeschlagenen touristischen Besichtigungsversuchs des damals, 2009, noch in Betrieb gewesenen litauischen Kernkraftwerks Ignalina (Typ Tschernobyl), von den Führungen durch die Anlage in Plokstine erfahren und bekam auch vage Informationen über die Termine der Führungen. So bin ich auf dem Weg nach Klaipeda "auf gut Glück" als Abstecher dorthin gefahren und war froh, als ich zum vermuteten Zeitpunkt schon eine kleine Gruppe Menschen warten sah. Die Führerin kam etwas später mit dem Auto angebraust ("sorry, I' m late"), parkte direkt vor den Abdeckplatten der Silos und los ging' s.
Die vier Raketensilos waren bei meinem Besuch im Jahre 2009 schon 47 Jahre alt. Sie waren seit 31 Jahren nicht mehr in Betrieb gewesen und waren etwa 18 Jahre zuvor ausgeplündert worden. Plokstine war im Jahre 2009 beileibe noch kein "Museum", ich war froh um die Gelegenheit, als Tourist die verfallene Anlage innerhalb einer Führung besichtigen zu können und war dem Idealismus des kleinen Kulturvereins, der die Anlage betreute und gelegentlich Interessenten zugänglich machte, sehr dankbar.
Im unterirdischen Anlageninneren waren wir dann etwa 10 Besucher. Zunächst bekamen wir den im Dauerdienst besetzt gewesenen Wachraum zu sehen, in dem das Telefon gestanden hat, über das im Ernstfall der codierte Einsatzbefehl übermittelt worden wäre. Außerdem den Dieselmotor, der die ganze Anlage mit Energie versorgte.
Dann ging es über enge Treppen eine Ebene tiefer. Wir erreichten eine Art "Zentralraum" mit vier roten, rostigen Türen. Von diesen führten lange dämmerige Stollen zu den vier Raketenschächten. Außerdem befanden sich im "Zentralraum" die Betonfundamente des Aluminiumtanks, der den Raketentreibstoff enthielt. Dann ging es geführt weiter durch einen der Stollen zu einem der vier Silos.
Wir erreichten zunächst eine umlaufende Arbeitsgalerie an der äußeren Schachtwand des Silos. Durch eine kleine Luke ging es anschließend kriechend mit Taschenlampen ("mind your head!") durch die Silowanddickung zu einer ebenfalls umlaufenden Arbeitsgalerie an der inneren Schachtwand des Silos: von hier aus waren Wartungsarbeiten direkt am Sprengkopf der Rakete möglich gewesen. Der nunmehr natürlich leere und durch ein Netz gegen das Hinunterfallen von Personen gesicherte, etwa 25 m tiefe Raketenschacht war bis auf ein kleines angebrachtes Notlicht vollständig dunkel. Die Führerin hat einen Kieselstein hinabgeworfen: es dauerte...
Was die Fotos betrifft, konnte ich in der verfallenen Anlage in Plokstine an einer gewissen ruinenromantischen "Gemütlichkeit" gar nicht ganz "vorbeifotografieren". Abblätternde Farbe, Wasserpfützen, Rost sehen in gewisser Weise immer "schön" im Verfall aus, so wie das ja auch beim Verblühen von Mohn oder Tulpen der Fall ist. Dieselbe Anlage, blitzsauber und funktionsfähig, hätte bestimmt bizarrer und bedrohlicher auf mich als Besucher gewirkt.
Ein Blick in den Abgrund?
Der Blick in den leeren dunklen Schacht, in dem vor über 30 Jahren, die abschußbereiten Raketen mit ihren Atomsprengköpfen standen, war zumindest für mich kein schauriger "Blick in den Abgrund". Ich war darüber gar nicht entäuscht, eher erleichtert. Doch die Phantasie macht sich ihr eigenes Bild von Abgründen...
Wirklich abgründig fand ich etwa die Vorstellung, daß in dem Wachraum ständig im Schichtdienst zwei kräftige, junge und bestimmt unendlich gelangweilte Soldaten "auf Wache" waren: 16 Jahre lang - im 24 h-Dauerdienst, um im eintretenden Ernstfall auf einen codierten telefonischen Befehl hin mit ein paar wenigen minutiös festgelegten, schnellen, Arbeitsschritten eine Atomrakete zu starten, die dann ein willkürlich gewähltes "weiches Ziel", also eine ganze Großstadt, etwa Augsburg, Canterbury oder Verona mitsamt den Bewohnern vollständig ausgelöscht hätte.
Wie es dann in Plokstine weiterging: das "Museum des Kalten Kriegs".
2012 wurde die Anlage ganz geschlossen, umgebaut und schließlich als "Museum des Kalten Krieges" wiedereröffnet. Es erhält, wie schon die Öffnungszeiten zeigen, offenbar sehr regen Zuspruch, vielfach von Schulklassen.
War bei meiner Besichtigung 2009 der historisch gewachsene, "natürliche", also durch die geschichtliche Entwicklung und nicht durch museale, interpretierende Eingriffe entstandene, Entwicklungszustand der Silos in Plokstine noch unmittelbar ablesbar, so scheint sich dies mit der Einrichtung des Museums grundlegend geändert zu haben. Heute gibt es in Plokstine offenbar einen richtig professionellen Museumsbetrieb mit Vorträgen, Visitor Center, Cafeteria, Parkplatz usw...
Das Innere der Anlage ist wohl ebenfalls gründlich verändert worden, wie die Bilder im Netz zeigen. Statt ausgeweideten Kabelschränken stehen dort nun Vitrinen mit historischen Ordensabzeichen usw...teilweise wird wohl auch "historisierend" Stimmung gemacht: es stehen uniformierte Schaufensterpuppen in den Räumen, es gibt auch wieder ein Telefon im Wachraum, man soll sich gruseln: der Besucher soll das damalige "Gleichgewicht des Schreckens" des Kalten Krieges hautnah zu spüren bekommen.
Ist das Kitsch? Sind das billig erzeugte Schauereffekte? Aus einer puristisch - denkmalschützerischen Sicht auf die Raketensilos womöglich schon. Aus museumspädagogischer Sicht wohl eher nicht.
Am billigsten wäre es, sich darüber lustig zu machen, finde ich. Wie sonst soll man heute Schulkindern aus Vilnius oder Jugendlichen aus der ganzen Welt die schon sehr lange zurückliegenden Schrecken des Kalten Krieges "erlebbar" machen? Die Touristen besichtigen heute in Plokstine eben nicht nur ehemalige Atomraketensilos, sondern sie besuchen ein historisches Museum über den Kalten Krieg, das sinnvollerweise in einer solchen Anlage untergebracht ist.
Die Silos in Plokstine können wohl auch nur auf diese Weise dauerhaft erhalten werden. Und touristische Attraktivität hat bei der Gestaltung des Museums bestimmt auch eine Rolle gespielt, schließlich sorgt der umgenutzte Raketensilo, der 37 Jahre leerstand, seit 2012 wieder für Arbeitsplätze - auf ganz friedliche Weise!
Die Silos in Plokstine und das "Gleichgewicht des Schreckens" der Supermächte im Kalten Krieg sind heute museale Vergangenheit. Aber die Nuklearwaffen sind es mitnichten...
...denn Atomraketen jeglicher Reichweite gibt es heute überall auf der Welt. Nicht nur, aber auch in: Silos. Obama träumte vor kurzem noch sehr öffentlichkeitswirksam von ihrer Ächtung, sogar Abschaffung, doch in den Zeiten von Trump, Putin und Kim Jong-Un erleben die Atomwaffen plötzlich einen "Relaunch" ihres schmutzigen Images und feiern ein unerwartetes und abgründiges Come-Back: es soll jetzt nuklear wieder kräftig aufgerüstet werden!
Vielleicht lohnt es sich gerade deshalb, heute daran zu erinnern, wie vor etwa 75 Jahren, also schon lange vor dem Kalten Krieg, dem das Museum in Plokstine gewidmet ist, alles begann: mitten im Zweiten Weltkrieg in den Labors von Los Alamos, New Mexico, USA.
Die menschlichen Abgründe. Den nuklearen Explosionen in Hiroshima und Nagasaki ging eine Implosion der Ethik voraus. Eine Anekdote aus der Zeit des "Manhattan-Projekts" im Jahre 1943. Und ein Zitat von Stalin.
Zwei kultivierte, aus bürgerlichen Verhältnissen stammende Physiker, der Amerikaner Robert Oppenheimer und der Italiener Enrico Fermi waren ab 1942 innerhalb des "Manhattan-Projekts" federführend für die Entwicklung der ersten US- Atomwaffen, die, falls der II.Weltkrieg lange genug dauern sollte, gegen Nazi-Deutschland und Japan eingesetzt werden sollten.
Der offenbar zu Sparsamkeit neigende Enrico Fermi frug 1943 Robert Oppenheimer, ob die bei den Tests ständig anfallenden radioaktiven Abfallprodukte nicht wenigstens noch benutzt werden könnten, um Lebensmittel der deutschen Zivilbevölkerung damit zu vergiften. Oppenheimer war von der Idee sehr angetan und hielt mit Edward Teller, dem späteren "Vater der Wasserstoffbombe" Rücksprache. Dieser fand Strontium 90 für den beabsichtigten Zweck am vielversprechendsten. Robert Oppenheimer befürwortete das Vorhaben schließlich, vertrat aber die Ansicht, der erhebliche technische und finanzielle Aufwand dafür lohne sich eigentlich nur dann, wenn es wirklich gelingen könne, "wenigstens eine halbe Million Deutsche damit auf einmal zu töten". Die ehrgeizige Idee wurde schließlich nicht verwirklicht.
Es war Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, ein Schuhmacherssohn aus Georgien und entlaufener Priesterseminarist, später "Stalin" genannt, der den Zerfall der Moral in Zeiten des Kriegs auf einen ganz einfachen Punkt gebracht hat: „Der Tod eines Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen von Männern nur Statistik“. Stalin, der an Frauen und Kindern nicht sonderlich interessiert war, dachte natürlich an den Tod von Männern: im Krieg.
Doch als Oppenheimer, Fermi und Teller die über Jahre hinweg im Manhattan-Projekt entwickelten US-Atombomben im August 1945 endlich gefechtsbereit gemacht hatten und zwei davon direkt über japanischen Städten detonierten ließen, vernichteten diese vor allem Frauen, Kinder und Alte, denn die meisten japanischen Männer befanden sich noch im Feld.
Der Abgrund: Nagasaki am 10.08.1945 und die Fotos von Yosuke Yamahata
Am 10.8.1945, einen Tag nach der Bombardierung Nagasakis mit einer US-Atombombe, hat Yosuke Yamahata, ein japanischer Militärfotograph, dort Bilder gemacht. Wo vorher dicht besiedelte Stadtviertel gewesen waren, fand er nichts mehr als eine riesige verbrannte Brache, aus der ein paar Trümmer herausragten. Außer verkohlten Schrumpfleichen traf er auch noch lebendige Menschen an, die, ohne das eingetretene Ereignis fassen zu können, dort vollkommen verstört herumirrten. Für das, was in Nagasaki geschehen war, gab es nämlich noch gar keinen Begriff.
Yosuke Yamahata blieb 12 Stunden im vollkommen verstrahlten Abwurfgebiet der Atombombe, drang bis zum "Nullpunkt" der Detonation vor und hat mit großer Sorgfalt und wie ich finde, großer Empathie, etwa 100 Fotografien gemacht. Diesen Blick in den Abgrund hat er 1966 mit seinem Leben bezahlt. Wer interessiert ist, kann sich hier einige dieser Bilder ansehen.
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Vielen herzlichen Dank an A. und A. von pika8x14 für die Übersetzungshilfe bei den kyrillischen Aufschriften in Russisch!
Kurzer Abriss der Geschichte der Atomraketensilos in Plokstine:
Die Anfänge 1960 bis 1962
Ausgehoben wurden die vier jeweils 25 Meter tiefen Raketensilos ab 1960 in einem abgelegenen und stark bewaldeten Gebiet der zur UdSSR gehörigen Litauischen SSR. Gegraben wurde aus Gründen der Geheimhaltung ohne schweres Gerät (Bagger etc), sondern nur mit Handwerkzeugen (Schaufeln). Die 10 000 Bauarbeiter stammten fast ausschließlich aus der benachbarten Estnischen SSR.
1962 bis 1978
Ab Dezember 1962 (unmittelbar nach der Kuba-Krise) befanden sich 16 Jahre lang insgesamt 8 gefechtsbereite, nukleare Mittelstreckenraketen am Standort. In demselben Zeitraum waren in unauffälligen Kasernen direkt neben der Anlage auch 300 UdSSR-Soldaten als ständige Wach- und Wartungsmannschaft stationiert. Die vier unterirdischen Raketensilos waren permanent mit Atomraketen bestückt. Des weiteren waren vier Ersatzraketen auf dem Gelände gelagert.
Die Mittelstrecken-Raketen vom Typ R 12 "Dvina" (die abweichende Bezeichnung der NATO für diese Raketen lautete SS 4 "Sandal“) hatten eine Reichweite von 2300 km, somit konnten die Raketen von Litauen aus ganz Westeuropa mit der Ausnahme von Island, Zypern und einem Teil der Iberischen Halbinsel erreichen.
Die 23 Meter langen Mittelstreckenraketen trugen jeweils einen 4 Meter langen nuklearen Sprengkopf mit einer Sprengkraft von etwa 1,3 Megatonnen TNT, das entspricht etwa dem Hundertfachen der Hiroshima-Bombe, deren Sprengkraft nur 13 Kilotonnen TNT betrug (1Mt = 1000 Kt). Die Raketen waren nicht zielgenau und richteten sich deshalb auch nicht gegen strategische, sogenannte "harte Ziele", sondern gegen "weiche Ziele", das waren Großstädte und deren Bewohner.
Was wäre im Ernstfall passiert? Zunächst wäre ein codierter telefonischer Einsatzbefehl in dem rund um die Uhr mit zwei Soldaten besetzten unterirdischen Wachraum eingegangen. Ein „Zwei-Schlüssel-System“ nach dem "4 Augen-Prinzip" hätte die Startfreigabe ermöglicht. Erst nach dieser Freigabe hätten die Raketen betankt werden können. Ein in der Anlage befindlicher Motor hätte gleichzeitig die oberirdischen Abdeckungen der vier Silos aufgeklappt. Anschließend hätten die Raketen nach dem Startbefehl ihre Siloschächte unwiderruflich in Richtung Westeuropa verlassen…
Die nach dem Abschuss leeren Silos hätten für einen zweiten Einsatz mit den schon erwähnten 4 Ersatzraketen nachgeladen werden können. Eine Neubestückung der vier Siloschächte mit den 23 m langen Raketen hätte aber einen erheblichen logistischen und zeitlichen Aufwand bedeutet und wäre im Ernstfall unrealistisch gewesen.
Mobile, oberirdische, LKW- Raketenabschusslafetten, wie es sie anderswo in der UdSSR gab, waren in der Umgebung von Plokstine nicht vorhanden, wohl auch, um die gut versteckte, größtenteils unterirdische Anlage möglichst unauffällig zu halten.
1978 bis 2012
Erst im Jahre 1978 wurde die Anlage von der CIA entdeckt und bald darauf von der UdSSR aufgegeben. Die Sprengköpfe, Wachmannschaften und Militärtechniker wurden aus Plokstine abgezogen und die technisch entkernte Anlage wurde so, wie sie war, zurückgelassen.
1990 erlangte Litauen seine Unabhängigkeit von der UdSSR und hatte zunächst natürlich andere Sorgen, als sich um die militärischen Hinterlassenschaften der UdSSR zu kümmern. Die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen in Litauen waren weitgehend zusammengebrochen. Die verlassenen Kasernengebäude und Raketensilos in Plokstine wurden von der Landbevölkerung ausgeplündert. Die Weiterverwertung des Aluminiums des großen Treibstofftanks erwies sich als verhängnisvoll, denn Raketentreibstoff ist hochgiftig und einige Todesfälle waren die Folge. Das sind die einzigen und noch dazu ganz unbeabsichtigten Personenschäden, die von der Atomraketenstation in Plokstine seit ihrer Inbetriebnahme 1962 verursacht wurden.
2005 gründete sich ein Kulturverein, der die zunächst verlassene und dann ausgeplünderte Anlage sicherte, notdürftig begehbar machte und bis 2012 erste Besichtigungen ermöglichte.
Die Besichtigung 2009
Ich hatte eher zufällig, anlässlich eines leider fehlgeschlagenen touristischen Besichtigungsversuchs des damals, 2009, noch in Betrieb gewesenen litauischen Kernkraftwerks Ignalina (Typ Tschernobyl), von den Führungen durch die Anlage in Plokstine erfahren und bekam auch vage Informationen über die Termine der Führungen. So bin ich auf dem Weg nach Klaipeda "auf gut Glück" als Abstecher dorthin gefahren und war froh, als ich zum vermuteten Zeitpunkt schon eine kleine Gruppe Menschen warten sah. Die Führerin kam etwas später mit dem Auto angebraust ("sorry, I' m late"), parkte direkt vor den Abdeckplatten der Silos und los ging' s.
Die vier Raketensilos waren bei meinem Besuch im Jahre 2009 schon 47 Jahre alt. Sie waren seit 31 Jahren nicht mehr in Betrieb gewesen und waren etwa 18 Jahre zuvor ausgeplündert worden. Plokstine war im Jahre 2009 beileibe noch kein "Museum", ich war froh um die Gelegenheit, als Tourist die verfallene Anlage innerhalb einer Führung besichtigen zu können und war dem Idealismus des kleinen Kulturvereins, der die Anlage betreute und gelegentlich Interessenten zugänglich machte, sehr dankbar.
Im unterirdischen Anlageninneren waren wir dann etwa 10 Besucher. Zunächst bekamen wir den im Dauerdienst besetzt gewesenen Wachraum zu sehen, in dem das Telefon gestanden hat, über das im Ernstfall der codierte Einsatzbefehl übermittelt worden wäre. Außerdem den Dieselmotor, der die ganze Anlage mit Energie versorgte.
Dann ging es über enge Treppen eine Ebene tiefer. Wir erreichten eine Art "Zentralraum" mit vier roten, rostigen Türen. Von diesen führten lange dämmerige Stollen zu den vier Raketenschächten. Außerdem befanden sich im "Zentralraum" die Betonfundamente des Aluminiumtanks, der den Raketentreibstoff enthielt. Dann ging es geführt weiter durch einen der Stollen zu einem der vier Silos.
Wir erreichten zunächst eine umlaufende Arbeitsgalerie an der äußeren Schachtwand des Silos. Durch eine kleine Luke ging es anschließend kriechend mit Taschenlampen ("mind your head!") durch die Silowanddickung zu einer ebenfalls umlaufenden Arbeitsgalerie an der inneren Schachtwand des Silos: von hier aus waren Wartungsarbeiten direkt am Sprengkopf der Rakete möglich gewesen. Der nunmehr natürlich leere und durch ein Netz gegen das Hinunterfallen von Personen gesicherte, etwa 25 m tiefe Raketenschacht war bis auf ein kleines angebrachtes Notlicht vollständig dunkel. Die Führerin hat einen Kieselstein hinabgeworfen: es dauerte...
Was die Fotos betrifft, konnte ich in der verfallenen Anlage in Plokstine an einer gewissen ruinenromantischen "Gemütlichkeit" gar nicht ganz "vorbeifotografieren". Abblätternde Farbe, Wasserpfützen, Rost sehen in gewisser Weise immer "schön" im Verfall aus, so wie das ja auch beim Verblühen von Mohn oder Tulpen der Fall ist. Dieselbe Anlage, blitzsauber und funktionsfähig, hätte bestimmt bizarrer und bedrohlicher auf mich als Besucher gewirkt.
Ein Blick in den Abgrund?
Der Blick in den leeren dunklen Schacht, in dem vor über 30 Jahren, die abschußbereiten Raketen mit ihren Atomsprengköpfen standen, war zumindest für mich kein schauriger "Blick in den Abgrund". Ich war darüber gar nicht entäuscht, eher erleichtert. Doch die Phantasie macht sich ihr eigenes Bild von Abgründen...
Wirklich abgründig fand ich etwa die Vorstellung, daß in dem Wachraum ständig im Schichtdienst zwei kräftige, junge und bestimmt unendlich gelangweilte Soldaten "auf Wache" waren: 16 Jahre lang - im 24 h-Dauerdienst, um im eintretenden Ernstfall auf einen codierten telefonischen Befehl hin mit ein paar wenigen minutiös festgelegten, schnellen, Arbeitsschritten eine Atomrakete zu starten, die dann ein willkürlich gewähltes "weiches Ziel", also eine ganze Großstadt, etwa Augsburg, Canterbury oder Verona mitsamt den Bewohnern vollständig ausgelöscht hätte.
Wie es dann in Plokstine weiterging: das "Museum des Kalten Kriegs".
2012 wurde die Anlage ganz geschlossen, umgebaut und schließlich als "Museum des Kalten Krieges" wiedereröffnet. Es erhält, wie schon die Öffnungszeiten zeigen, offenbar sehr regen Zuspruch, vielfach von Schulklassen.
War bei meiner Besichtigung 2009 der historisch gewachsene, "natürliche", also durch die geschichtliche Entwicklung und nicht durch museale, interpretierende Eingriffe entstandene, Entwicklungszustand der Silos in Plokstine noch unmittelbar ablesbar, so scheint sich dies mit der Einrichtung des Museums grundlegend geändert zu haben. Heute gibt es in Plokstine offenbar einen richtig professionellen Museumsbetrieb mit Vorträgen, Visitor Center, Cafeteria, Parkplatz usw...
Das Innere der Anlage ist wohl ebenfalls gründlich verändert worden, wie die Bilder im Netz zeigen. Statt ausgeweideten Kabelschränken stehen dort nun Vitrinen mit historischen Ordensabzeichen usw...teilweise wird wohl auch "historisierend" Stimmung gemacht: es stehen uniformierte Schaufensterpuppen in den Räumen, es gibt auch wieder ein Telefon im Wachraum, man soll sich gruseln: der Besucher soll das damalige "Gleichgewicht des Schreckens" des Kalten Krieges hautnah zu spüren bekommen.
Ist das Kitsch? Sind das billig erzeugte Schauereffekte? Aus einer puristisch - denkmalschützerischen Sicht auf die Raketensilos womöglich schon. Aus museumspädagogischer Sicht wohl eher nicht.
Am billigsten wäre es, sich darüber lustig zu machen, finde ich. Wie sonst soll man heute Schulkindern aus Vilnius oder Jugendlichen aus der ganzen Welt die schon sehr lange zurückliegenden Schrecken des Kalten Krieges "erlebbar" machen? Die Touristen besichtigen heute in Plokstine eben nicht nur ehemalige Atomraketensilos, sondern sie besuchen ein historisches Museum über den Kalten Krieg, das sinnvollerweise in einer solchen Anlage untergebracht ist.
Die Silos in Plokstine können wohl auch nur auf diese Weise dauerhaft erhalten werden. Und touristische Attraktivität hat bei der Gestaltung des Museums bestimmt auch eine Rolle gespielt, schließlich sorgt der umgenutzte Raketensilo, der 37 Jahre leerstand, seit 2012 wieder für Arbeitsplätze - auf ganz friedliche Weise!
Die Silos in Plokstine und das "Gleichgewicht des Schreckens" der Supermächte im Kalten Krieg sind heute museale Vergangenheit. Aber die Nuklearwaffen sind es mitnichten...
...denn Atomraketen jeglicher Reichweite gibt es heute überall auf der Welt. Nicht nur, aber auch in: Silos. Obama träumte vor kurzem noch sehr öffentlichkeitswirksam von ihrer Ächtung, sogar Abschaffung, doch in den Zeiten von Trump, Putin und Kim Jong-Un erleben die Atomwaffen plötzlich einen "Relaunch" ihres schmutzigen Images und feiern ein unerwartetes und abgründiges Come-Back: es soll jetzt nuklear wieder kräftig aufgerüstet werden!
Vielleicht lohnt es sich gerade deshalb, heute daran zu erinnern, wie vor etwa 75 Jahren, also schon lange vor dem Kalten Krieg, dem das Museum in Plokstine gewidmet ist, alles begann: mitten im Zweiten Weltkrieg in den Labors von Los Alamos, New Mexico, USA.
Die menschlichen Abgründe. Den nuklearen Explosionen in Hiroshima und Nagasaki ging eine Implosion der Ethik voraus. Eine Anekdote aus der Zeit des "Manhattan-Projekts" im Jahre 1943. Und ein Zitat von Stalin.
Zwei kultivierte, aus bürgerlichen Verhältnissen stammende Physiker, der Amerikaner Robert Oppenheimer und der Italiener Enrico Fermi waren ab 1942 innerhalb des "Manhattan-Projekts" federführend für die Entwicklung der ersten US- Atomwaffen, die, falls der II.Weltkrieg lange genug dauern sollte, gegen Nazi-Deutschland und Japan eingesetzt werden sollten.
Der offenbar zu Sparsamkeit neigende Enrico Fermi frug 1943 Robert Oppenheimer, ob die bei den Tests ständig anfallenden radioaktiven Abfallprodukte nicht wenigstens noch benutzt werden könnten, um Lebensmittel der deutschen Zivilbevölkerung damit zu vergiften. Oppenheimer war von der Idee sehr angetan und hielt mit Edward Teller, dem späteren "Vater der Wasserstoffbombe" Rücksprache. Dieser fand Strontium 90 für den beabsichtigten Zweck am vielversprechendsten. Robert Oppenheimer befürwortete das Vorhaben schließlich, vertrat aber die Ansicht, der erhebliche technische und finanzielle Aufwand dafür lohne sich eigentlich nur dann, wenn es wirklich gelingen könne, "wenigstens eine halbe Million Deutsche damit auf einmal zu töten". Die ehrgeizige Idee wurde schließlich nicht verwirklicht.
Es war Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, ein Schuhmacherssohn aus Georgien und entlaufener Priesterseminarist, später "Stalin" genannt, der den Zerfall der Moral in Zeiten des Kriegs auf einen ganz einfachen Punkt gebracht hat: „Der Tod eines Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen von Männern nur Statistik“. Stalin, der an Frauen und Kindern nicht sonderlich interessiert war, dachte natürlich an den Tod von Männern: im Krieg.
Doch als Oppenheimer, Fermi und Teller die über Jahre hinweg im Manhattan-Projekt entwickelten US-Atombomben im August 1945 endlich gefechtsbereit gemacht hatten und zwei davon direkt über japanischen Städten detonierten ließen, vernichteten diese vor allem Frauen, Kinder und Alte, denn die meisten japanischen Männer befanden sich noch im Feld.
Der Abgrund: Nagasaki am 10.08.1945 und die Fotos von Yosuke Yamahata
Am 10.8.1945, einen Tag nach der Bombardierung Nagasakis mit einer US-Atombombe, hat Yosuke Yamahata, ein japanischer Militärfotograph, dort Bilder gemacht. Wo vorher dicht besiedelte Stadtviertel gewesen waren, fand er nichts mehr als eine riesige verbrannte Brache, aus der ein paar Trümmer herausragten. Außer verkohlten Schrumpfleichen traf er auch noch lebendige Menschen an, die, ohne das eingetretene Ereignis fassen zu können, dort vollkommen verstört herumirrten. Für das, was in Nagasaki geschehen war, gab es nämlich noch gar keinen Begriff.
Yosuke Yamahata blieb 12 Stunden im vollkommen verstrahlten Abwurfgebiet der Atombombe, drang bis zum "Nullpunkt" der Detonation vor und hat mit großer Sorgfalt und wie ich finde, großer Empathie, etwa 100 Fotografien gemacht. Diesen Blick in den Abgrund hat er 1966 mit seinem Leben bezahlt. Wer interessiert ist, kann sich hier einige dieser Bilder ansehen.
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Vielen herzlichen Dank an A. und A. von pika8x14 für die Übersetzungshilfe bei den kyrillischen Aufschriften in Russisch!
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